Hilfe, ich bin eine Randgruppe!

13.02.2011 - 08:00 UhrVor 12 Jahren aktualisiert
Der Berlinale Podcast
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Heute hab ich mich endlich auch einmal in den Wettberb geschlichen und wurde prompt in allen drei Filmen mit sozialen Randgruppen konfrontiert – Herr Koslick, sie sind so berechenbar…

Mein dritter Tag der Berlinale stand im Zeichen der Angst. Nachdem Orlindo gestern bereits den Wettbewerb abdeckte, war ich heute an der Reihe. Auf dem Programm standen Schlafkrankheit, Yelling To The Sky und Almanya – Willkommen in Deutschland. Der erste handelt von Deutschen in Afrika, der zweite von Türken in Deutschland und der dritte von der schwarzen Unterschicht der USA – wie verloren komme ich mir da als weißer deutscher Mittelstandsbubi in Berlin vor.

Schlafkrankheit von Ulrich Köhler
Wie ich gestern bereits andeutete, bin ich mit den denkbar schlechtesten Erwartungen an den Film herangegangen: Deutsche in Afrika, ich kann mich an kein filmisches oder historisches Ereignis erinnern, wo das schon einmal gut ausgegangen ist. Doch Schlafkrankheit hat mich positiv überrascht. Aus der Geschichte eines deutschen Arztes, der als Entwicklungshelfer nach Afrika kam, entwickelt sich eine Reise ins Herz der Finsternis. Dieser Vergleich zu Joseph Conrad ist gar nicht so weit hergeholt, denn tatsächlich mutet das aristokratische Gebären der Ärzte an wie eine moderne Form des bizarren Kolonialismus in dessen Erzählung.

Interessant war hierbei besonders die Charakterentwicklung des Arztes Dr. Velten. Anfangs einfach nur ein wenig überheblich (Typus: Mein Wort ist Gesetz), prinzipientreu aber herzlich, sind es genau jene Eigenschaften, die ihn in Afrika in sein Zerrbild verwandeln. Besonders hervorstechend war das klug konstruierte Drehbuch, welches auch durch schöne, witzige und vielsagende Dialoge überzeugte. Ein Film, über den ich noch viel schreiben könnte, aber der wirklich eine Empfehlung rechtfertigt, gerade weil er den Safari-Kitsch strikt vermeidet und uns von einer Liebe zu Afrika berichtet, die den Betroffenen nicht automatisch zum besseren Menschen macht. Hier wird von einer Entwicklungshilfe erzählt, welche nicht das Land verwandelt, sondern vor allem die Helfer.

Da ich heute den Wettbewerb abdecken konnte, hatte Orlindo heute freie Hand, was er natürlich gleich wieder genutzt hat, um kleine Kinder zu erschrecken. Unter Nordischer Puderzucker + Aussie-Antihelden = Liebe findet ihr seine heutigen Berlinale-Erlebnisse.

Almanya – Willkommen in Deutschland von Yasemin Samdereli und"Nesrin Samdereli (Nesrin Samdereli)":/people/nesrin-samdereli
An Almanya – Willkommen in Deutschland knüpfte ich im Vorfeld große Hoffnungen. Obwohl das Thema – Deutsche mit “Migrationshintergrund” – eigentlich zu typisch deutschen Klemmi-Dramen einlädt, versprühten die ersten Trailer zu Almanya so viel leichtfüßigen Humor, dass ich mich wirklich auf den Film freute. Und was soll ich sagen: Ich wurde nicht enttäuscht. Der Film dreht meinen Standpunkt des deutschen Zuschauers und ließ mich die Einreise nach Deutschland und die folgenden Jahre durch die Augen der Einwanderer sehen. So sprechen die “Ungläubigen”, die in der Kirche Menschenfleisch essen und Blut trinken, zu Beginn eine unverständliche Phantasiesprache, ähnlich der von Charlie Chaplin in Der große Diktator.

Deutsche Gewohnheiten werden aus ihrem Kontext gelöst und dadurch als das erkennbar, was sie sind: albern und witzig. Durch diesen anderen Blick versteht auch der letzte Schrebergarten-Pächter, wie Deutschland für diese türkische Familie mit der Zeit zu einer seltsamen zweiten Heimat wurde und die Türkei trotzdem eine alte Heimat blieb. Dabei ist Almanya – Willkommen in Deutschland genau so, wie ein solcher Film sein muss: oft witzig, zeitweise melancholisch und auch ein wenig traurig – so hörte ich gegen Ende des Filmes manch hartgesottenen Kritiker in sein Taschentuch schluchzen. Auch wenn wirkliche soziale Konflikte hier keine Rolle spielen: Wenn so wie Almanya – Willkommen in Deutschland alle deutschen Komödien aussehen würden, dann bräuchte sich das deutsche Kino keine Angst um seine Zukunft zu machen.

Yelling To The Sky von Victoria Mahoney
Das Schlimmste kommt zum Schluss – so jedenfalls war meine Angst. Ein Milieu-Drama über die Gewalt in der schwarzen Unterschicht Amerikas mit einer prügelnden Gabourey Sidibe? Was soll das werden? Prescious 2 – Die Rache? Ganz so plump wurde es dann zwar doch nicht, aber letztendlich versagte Yelling To The Sky trotzdem – jedenfalls für mich. Ich wurde den Eindruck nicht los, dass Yelling To The Sky ebenso weit weg von der Realität dieser Schicht ist, wie Almanya – Willkommen in Deutschland von den Neuköllner Gangster-Kids. Um aufrichtig zu wirken, hat der Film zu viele Millieu-Klischees.

Natürlich verprügelt jeder Mann hier seine Frau, natürlich nehmen alle Drogen bis der Schornstein raucht, natürlich wird irgendjemand von einer Gang erschossen – muss ja alles seine Ordnung haben. Wie könnte es auch anders sein in diesem seltsamen Subgenre des Unterschichtendramas, in dem sich seit gefühlten 20 Jahren nichts Nennenswertes mehr getan hat. Auch in Yelling To The Sky wird vor allem mit dem Finger auf das Elend gezeigt, aber damit begnügt er sich dann. Zwar versucht der Film noch irgendwann die Kurve aus der kompletten Austauschbarkeit heraus zu bekommen, doch wirken die Charakterentwicklungen zu diesem Zeitpunkt nicht mehr nachvollziehbar: Abziehbilder werden nunmal nicht erwachsen.

Der Berlinale-Podcast – Tag 3
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