Das Ende der Berlinale bedeutet für Festivaldirektor Dieter Kosslick vor allem eines: Urlaub. „Was kommt nach der Berlinale?“, wird Kosslick in Interviews oft gefragt. Nach dem Abschluss des Jahrgangs inklusive der Nachbetrachtung nimmt sich Kosslick, der seit 2001 den Vorsitz über die Internationalen Filmfestspiele von Berlin innehat, eine Auszeit, um anschließend fleißig das nächste Jahr und die nächste Berlinale zu planen. Schauen wir einmal genau hin: Was präsentierten uns Kosslick und seine Auserwählten in diesem Jahr?
Es war das Jahr der Kinder, genauer: das Jahr der Geschwister. Allein im Wettbewerb liefen acht Filme, die auf die ein oder andere Art das Verhältnis von Geschwistern thematisieren. Der 10-jährigen Jack kümmert sich um seinen jüngeren Bruder, während die Mutter nur Feiern und Männer im Kopf hat. Auf einer Reise durch viele Bezirke Berlins sucht Jack nach der Mutter, trifft zwischendurch auf die Unfähigkeit junger Erwachsener und muss zudem sich und seinen Bruder irgendwie ernähren. Der weibliche Schwestern-Verbund thematisiert Dominik Graf in Die geliebten Schwestern, die sich geschworen haben, alles zu teilen – selbst Friedrich Schiller. Als Streitereien aufkommen, ist es der letzte Wunsch der Mutter, beide Schwestern wieder vereint zu sehen. Auch die Heldin Maria ist bereit, für ihren Bruder den Kreuzweg zu beschreiten und das höchste Opfer zu bringen, nur um den jüngeren Bruder endlich sprechen zu hören.
Futuro Beach thematisiert indes die Verbindung zweier brasilianischer Brüder. Als der eine für die Liebe zu einem Deutschen nach Berlin geht, staut sich bei dem anderen die Wut über die Entscheidung des Bruders. Als er ihm schließlich nach Deutschland folgt, werden beide Geschwister mit ihren Unzulänglichkeiten konfrontiert. In fast jedem dieser acht Filme war zudem der Umstand zu bemerken, dass eine autoritäre Vaterfigur gefehlt hat. In The Third Side of the River gibt es diese zwar, doch besitzt hier der Vater gleich zwei Familien, wodurch der 16-jährige Nicolas die Verantwortung übernimmt und sich um seinen Stiefbruder kümmert. Bevor Cillian Murphy in Aloft nach seiner Mutter sucht, sorgt er sich in jungen Jahren um seinen an Krebs erkrankten Bruder, dessen bevorzugte Liebe der Mutter bei ihm auf wenig Begeisterung stößt, bis es gar zu einem Unglück kommt. In Macondo ist der Vater im Tschetschenien-Krieg ums Leben gekommen, wodurch der 11-jährige Ramasan seine Position einnimmt. Er ist dabei hin- und hergerissen zwischen den kindlichen Neigungen und der Verantwortung seinen beiden Schwestern gegenüber. Und auch wenn es in Boyhood eher um das Heranwachsen von Mason geht, kommt dennoch die Beziehung zu seiner Schwester und seinen Stiefgeschwistern zum Tragen.
Es ging im Wettbewerb der Berlinale also darum, Verantwortung zu übernehmen. Dies wurde in Dramen nicht etwa junggebliebenen Erwachsenen eingetrichtert, sondern mussten die kindlichen Protagonisten von allein übernehmen. Dabei war außerdem zu beobachten, dass die Filme vor allem aktuelle Probleme ansprachen. Nur The Little House, der zur Zeit des Zweiten Weltkriegs spielt, oder 71 – Hinter feindlichen Linien, der den Nordirland-Bürgerkrieg anhand eines Einzelschicksals inszeniert, fallen aus dem Raster. Ansonsten geht es um aktuelle Kriege (Afghanistan: Zwischen Welten) und die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise (Stratos – The Storm Inside, Things People Do). China spielte mit unterschiedlichen Facetten eine ebenso tragende Rolle: Ich sah mit No Man’s Land einen modernen Western, der die Gesetzestreue selbst in der Abgeschiedenheit der Wüste Gobi aufrechterhält, mit Blind Massage den Zusammenhalt einer blinden Ersatzfamilie und mit dem Berlinale-Gewinner Feuerwerk am helllichten Tage einen Film noir, der die klassischen Bestandteil der femme fatale und des einsamen Detektivs aufgreift und sie ins China des 21. Jahrhunderts transformiert.