Einer flog über's Kuckucksnest - Der Schrei nach Freiheit

25.07.2011 - 08:50 Uhr
Aktion Lieblingsfilm: Einer flog über's Kuckucksnest
United Artists/moviepilot
Aktion Lieblingsfilm: Einer flog über's Kuckucksnest
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In der Aktion Lieblingsflim erzählen moviepilot User von den Filmen, die sie am liebsten gucken. Der Verfasser dieses Textes berichtet davon, warum Einer flog über’s Kuckucksnest für ihn ein cineastischer Schrei nach Freiheit ist.

Randall Patrick McMurphy, immer mit dem Kopf durch die Wand. Er ist kein aufbrausender Revolutionär, eher ein stiller Revolutionär. Er wird als notorischer Schläger in eine staatliche Nervenheilanstalt eingeliefert, um dort zu erfahren, wie es um seinen Seelenhaushalt bestellt ist. McMurphy sucht die Entspannung, was er findet, ist Ernüchterung, Autorität, Regressivität, Züchtigung, Bevormundung, Spaßbremsen, Football-Verächter, die Hölle, sie brennt lichterloh, mehr als noch im Gefängnis, er will zurück, schnellstens. Es ist ein universeller Gedanke: McMurphy zeigt mit der Menschlichkeit des Einzelnen der Unmenschlichkeit eines Systems die Stirn. Eine Maschinerie, die von einer Stationsschwester penibel und effizient nach Plan ausgeführt wird.

Wer einmal zu laut diskutiert, der kann es fast riechen, das Zimmer im zweiten Stock, das mit den Elektroschocks, den Operationstischen, den Hirnamputationen, auf jede Frage hat sie eine Antwort, die vor Kälte zu Eis erstarrt werden könnte, zu jedem Problem eine bereits vorher kalkulierte Notlösung, dazu keine Miene verziehend, leblos, tot, kein Mensch, zumindest im herkömmlichen Sinne. McMurphy erkennt: Ich habe nur eine Chance, wenn ich sie auf indirektem Wege attackiere, wenn ich sie an ihrer Eitelkeit packe, wenn ich Vitalität und selbstständiges Denken trainiere, ohne jemals an vorgegebenen Normen festzuhalten. Denn hier bestimme ich nicht, was normal und was unnormal ist, was der Diktatur dienlich ist und was ihr zuwiderläuft. Was ist normal? Was ist es schon?

McMurphy ist der rebellische Fels in der Brandung, bis in die kleinsten Gesichtsfurchen herausragend gespielt von Jack Nicholson, eine Art schillernder Jesus der Barmherzigkeit, der Nächstenliebe. Aufopferungsvoll darum bemüht, den sterilen Räumlichkeiten der karg gestrichenen Anstalt Farbe einzuverleiben, für Lebendigkeit zu sorgen, hinauszuschreien, um jeden Preis, dafür opfert er alles, auch seine Gesundheit. Wenn er die Chance hat, zu fliehen, bleibt er, ein Vertreter der vermeintlich Schwächeren und Charakterschwachen, Vorstandsmitglied und Sprecher und Manager, Verteidiger wie Ideengeber.

Milos Forman s Einer flog über das Kuckucksnest gewann fünf Oscars in den wichtigsten Hauptkategorien. Klassisches Oscarmaterial könnte man denken, weil die Sympathien klar abgesteckt sind, die Identifikation fürs Publikum jederzeit ersichtlich, die Bösen und die Guten kaum erkennbarer auf ihre jeweilige Funktion reduziert. Doch es steckt mehr hinter Einer flog über das Kuckucksnest. Einer flog über das Kuckucksnest ist eine Ode an die Menschlichkeit, ein Appell an die Kraft der Individualität und Zivilcourage, der niemals aufzugebenden Suche nach Werten in einem wertlosen Establishment, ein unumstößliches „Nein!“ zur ebenso totalitär geführten, psychologisch indoktrinierten wie menschenfeindlich gesinnten, institutionellen Überlegenheit. Kino als wertvolles, moralisches Instrument ohne jeden direkten Zeigefinger, sondern als weiser Anschauungsunterricht.

Dass Einer flog über das Kuckucksnest vor allem als zeitlose Tragikomödie funktioniert, ist konsequent in Anbetracht der Erkenntnis, dass vermutlich nie wieder derart charmant Grenzen zwischen beiden gegensätzlichen Emotionen – Lachen und Weinen – ausradiert wurden. Stephen King möchte, dass seine Leser seiner Lektüre am besten beides zugleich tun, Milos Forman katapultiert den Zuschauer hingegen in ein Dilemma: Der Zuschauer weiß nicht, ob er lachen oder weinen soll. Auf ein kurzzeitig befreiendes Ereignis im Film (der in letzter Sekunde gewonnenen Abstimmung, die Meisterschaftsspiele anzuschauen) folgt sogleich ein beunruhigendes, kräfteaufzehrendes Gegenargument, um Stück für Stück die Freude abzuwürgen, zu bändigen, zu zerstören (die Zeit war bereits vorbei, als der letzte Arm zur Abstimmung gehoben wurde). Wieder von vorn anfangen, aber McMurphy lässt sich nicht unterkriegen, dieser Mann ist unzerstörbar. Nebenher wandelt Einer flog über das Kuckucksnest stilsicher auf skurrilen Pfaden, die geradewegs ins Urkomische abdriften, jedoch nie ihre eigentliche Funktion der Heilung verlieren. So ist die Fischerbootsfahrt ein reinigendes, abwechslungsreiches Element, die Patienten aus ihrer Tristesse für eine Weile herauszuholen. Keine Konsequenz kann dies verhindern, es sind diese kleinen Errungenschaften McMurphys, über deren Erfolg er triumphiert. Jeder weitere ist ein zusätzlicher Sieg über das System.

Milos Forman bevölkert seine Handlung mit schrulligen, kauzigen, verwirrten Existenzen, liebevollen Menschen, die nicht oberflächlich als Stereotyp, sondern tief als Persönlichkeit gezeichnet werden, die trotz aller pathologischen Nebenerscheinungen Anstand wahren, Stolz verspüren und Rückgrat beweisen, die sich laut McMurphy in keiner Hinsicht von den Arschlöchern da draußen unterscheiden, obgleich ihnen kontinuierlich der Spiegel vorgehalten wird, sie seien aller äußerlichen Normalität zum Trotz nicht normal. Da ist der sexuell enttäuschte, stotternde Billy, der sämtlichen Kartenspielen besonders ahnungslos begegnende Martini, der meckernde Taber, der übergroße Häuptling, der McMurphy stets zur Seite stehende Cheswick und das Opfer aller anderen, Harding. Kurios wird es, wenn McMurphy erfährt, dass die meisten seiner neuen Freunde freiwillig in der Anstalt leben. Ist es gesellschaftliche Angst? Angst vor der abhandenkommenden Kontrolle da draußen, die der Klinikaufenthalt da drinnen suggeriert? Brauchen sie einen Wegweiser, damit sie nicht im Chaos versinken? Ist die Anstalt nicht auch eine Art Sicherheit spendende Anlaufstelle, ein geregeltes Leben zu führen?

Einer flog über das Kuckucksnest endet schließlich melancholisch und tröstlich, hoffnungsvoll. McMurphy stirbt einen Heldentod, der Häuptling entschwindet aus der Anstalt mit einem lauten Knall. Alles explodiert, jede Emotion, jede Reaktion. Milos Forman zaubert den epochalen Schrei nach Freiheit, nach Sieg, nach endgültigem Gewinn direkt in die Kamera.


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