Ein Hauch von Frühling

11.01.2012 - 08:50 Uhr
	 Anuschka - es brennt, mein Schatz
The Criterion Collection
Anuschka - es brennt, mein Schatz
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Politische Umbrüche beeinflussen meist auch die Welt der Kunst. Ein Beispiel dafür zeigt uns moviepilot-User alanger in seinem Text auf, den ihr heute in der Speakers’ Corner zu lesen bekommt.

Alles begann mit einer Konferenz zum 80. Geburstag von Franz Kafka, inszeniert von der tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften. Entfremdung war das Stichwort. Nur ein Phänomen des Kapitalismus oder gabs da auch was in sozialistischen Landen? Viele der teilnehmenden Schriftsteller, unter anderem Anna Seghers, werden später die Konferenz als Beginn jener „konterrevolutionären“ Ereignisse einordnen, die unter dem Begriff „Prager Frühling" in die Geschichte eingehen sollten.

„Die Kafka-Konferenz […] wurde zum Auftakt einer kurzen Periode des geistigen und gesellschaftlichen Aufbruchs, die im August 1968 mit dem Einmarsch der Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei ihr Ende fand“, heißt es auf Wikipedia.

Die CSSR wurde zum Hotspot für spannende Literatur, es gab plötzlich wunderbare Zeitschriften wie Im Herzen Europas, experimentelle Rockmusik und wagemutige Filmemacher. In den Barrandov–Studios bei Prag, den größten Produktionsanlagen Osteuropas, entstanden die Filme, die als die „tschechische Nouvelle Vague“ Geschichte machen sollten. Vera Chytilová, Jaromil Jires, Jirí Menzel, Jan Němec, Ivan Passer, Milos Forman, um nur einige zu nennen. „Ostře sledované vlaky“, in Deutschland unter dem Titel Liebe nach Fahrplan erschienen, erhielt 1968 einen Oscar als bester ausländischer Film und etablierte Jirí Menzel als einen der wichtigsten Filmemacher der 1960er Jahre. Die wunderschöne melancholische Komödie über einen kleinen Mann, der aus Versehen zum Helden (und Widerstandskämpfer gegen die Nazis) wird, ist auch heute noch sehr sehens- und liebenswert.

Über Vera Chytilovás Tausendschönchen – kein Märchen hat Thomas Groh hier schon tolles geschrieben. Der Feuerwehrball von Milos Forman ist an Schwarzhumorigkeit kaum zu überbieten. Der gute alte Roger Ebert meint: “It’s like that so often. We start out with the best of intentions, but we foul things up. And then we don’t know whether to laugh or cry. And that is exactly the case with Milos Forman’s ‘The Firemen’s Ball’, a small, warm jewel of a movie from Czechoslovakia. […] Forman develops his material with loving care. He never laughs at his characters; instead, he sees them as victims of human nature. […] This is a very warm, funny movie, and perhaps the best way you could spend an evening in a theater just now. It is a relief to find a director who doesn’t force his material, who trusts us to understand what’s funny without being told.”
Das sind nur einige wenige Beispiele, wer mehr will soll suchen …und wird reichlich finden.

Wie jeder schöne Traum ging auch der vom „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ schnell vorbei. 1968 war ein besonderes Jahr, auch in der Tschechoslowakai. Überall gingen junge Menschen auf die Straße und versuchten, die eingespielten Machtstrukturen zu durchbrechen. Aber während es im Quartier Latin, West-Berlin und Berkeley darum ging, so was wie Sozialismus einzufordern, waren in Prag die Zeichen auf Freiheit gestellt. Das musste auch der verdutzte Rudi Dutschke feststellen, als er den tschechischen Studenten erzählen wollte, wie eine Revolte im leninschen Sinne abzulaufen hätte. All das ist viel zu komplex und spannend, um es hier auf die Schnelle abzuhandeln. Wer sich gut und genau damit befassen will, dem sei das tolle Buch „Verlorener Frühling“ von Alan Levy ans Herz gelegt, das leider nur noch gebraucht zu bekommen ist.

Das Ende vom Lied: die russischen Panzer rollten ein und der kurze Frühling der Freiheit war vorbei. Viele Künstler emigrierten in den nächsten Jahren und die „tschechische Nouvelle Vague“ war Geschichte.

Was hat das Ganze mit mir zu tun? Als ich noch sehr klein war, gab es einen guten Freund der Familie, einen Professor Karel aus Prag. Ich habe heute noch die schönen Kinderbücher, die er mir mitbrachte, „Der kleine Maulwurf“, „Der reichste Spatz der Welt“, alles in deutsch von einem Prager Verlag. Später hörte ich, dass er etwas unterschrieben hatte und deswegen nicht mehr seinen Lehrstul innehaben durfte. Und, die gute Nachricht, er konnte weiterarbeiten, als Hausmeister in seiner Fakultät. Wenn das nix ist. Kurze Zeit später ist er dann auch gestorben.

Die oben erwähnte Zeitschrift “Im Herzen Europas” fand ich etliche Jahre später in großen Stapeln im Keller meiner Eltern und war nur begeistert. Lenka Reinerova durfe ich 2002 in Prag treffen. Großartige Frau, die dann leider 2008 starb. Aber wenigstens wieder frei und ohne Schreibverbot.

Wer sich für den kurzen Frühling der Freiheit im Ostblock interessiert, bekommt hier noch einiges zum Weiterlesen, -hören, und -sehen. Dem empfehle ich den Roman “Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins”, dessen Verfilmung Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, den Radiosender radio.cz sowie die Filme Der schwarze Peter und Valerie – Eine Woche voller Wunder.

Dieser Text ist Václav Havel gewidmet


Vorschau: Nach dieser bewegenden Rückschau in die Vergangenheit, wird es nächste Woche wieder zeitgenössischer zugehen in der Speakers Corner mit einem faszinierenden (Alb-)Traum.


Dieser Text stammt von unserem User alanger. Wenn ihr die Moviepilot Speakers’ Corner auch nutzen möchtet, dann werft zuerst einen kurzen Blick auf die Regeln und schickt anschließend euren Text an ines[@]moviepilot.de

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