1969 - Das Dritte Kino schreit nach Revolution!

14.01.2013 - 08:50 UhrVor 11 Jahren aktualisiert
1969 - Das Dritte Kino schreit nach Revolution!
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1969 - Das Dritte Kino schreit nach Revolution!
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Ein bisschen Revolution kann von Zeit zu Zeit nicht schaden und welche Zeit war dafür wohl besser geeignet als die Sechziger? Das fand auch Fernando Solanas und veröffentlichte 1969 sein Manifest zum sogenannten Dritten Kino.

Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber meiner Meinung nach kann die Welt des Films von Zeit zu Zeit ein wenig Aufruhr gebrauchen. Ein Blick in das deutsche Kino reicht, um schnell herauszufinden, dass zwischen verkopften Arthouse-Dramen (vorzugsweise im Umfeld der Stasi) und albernen Feelgood-Komödien à la Matthias Schweighöfer nicht allzu viel bahnbrechende Kreativität stattfindet. Das letzte große Anti-Ding war vielleicht Dogma 95, das Manifest einer dänischen Gruppe ambitionierter Regisseure, und besonders in den Sechziger Jahren blieb der Film nicht von den Umwälzungen ausgeschlossen, die Politik und Gesellschaft global ergriffen.

Was aus einem Kurzfilm werden kann
„…wir müssen diskutieren, wir müssen erfinden…“ Mit diesem Zitat des antikolonialistischen Schriftstellers Frantz Fanon begannen zwei argentinische Filmemacher 1969 ihr Manifest, dass die Ära eines neuen Kinos des Widerstandes einläuten sollte. Fernando E. Solanas und Octavio Getino wandten sich in ihrer Kampfschrift gegen Neokolonialismus, Kapitalismus und das Hollywood-System. Aber der Reihe nach.

Eigentlich wollte der studierte Theater- und Rechtswissenschaftler Fernando E. Solanas 1968 nur einen Kurzfilm über den Widerstand einiger argentinischer Fabrikarbeiter drehen. Stattdessen wurde aus dem Projekt sein erster Langfilm: eine vierstündige Dokumentation über politische Missstände in dem südamerikanischen Land.

Eine Montage wie Kanonendonner
Ohrenbetäubendes Sounddesign, Zwischentitel mit vielsagenden Schlagwörtern und Zitaten bedeutender südamerikanischer Revolutionsführer und eine Montage, die auf den Betrachter eindonnert wie Schüsse – all diese Eindrücke sorgen dafür, dass die Sichtung dieses dokumentarischen Werkes im Gedächtnis bleibt, selbst ohne fundiertes Grundwissen um die politische Lage im Argentinien der späten Sechziger.

Der Kritiker Vincent Canby von der New York Times beschrieb den Film sogar als eine „einzigartige filmische Entdeckung der Seele einer Nation“. Trotzdem zeigten Kinos meist nur den ersten Teil namens Neokolonialismus und Gewalt – die beiden übrigen Episoden galten selbst dem linken Lager oft als zu offen perónistisch. Die Stunde der Hochöfen – oder wie er bei uns heißt – Die Stunde der Hochöfen ist in seiner Zeit fest verankert und deswegen auch nur in diesem Kontext zu betrachten. Der etwas experimentelle dritte Teil verlangt aber letztlich „OPEN SPACE FOR DIALOGUE“ – eine Forderung, die auch heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat.

Drittes Kino > Zweites Kino > Erstes Kino
Mit all der Aufmerksamkeit für Die Stunde der Hochöfen endete der Rummel um Fernando E. Solanas aber nicht. Gemeinsam mit seinem Kollegen Octavio Getino publizierte er in dem Magazin Tricontinental ein Manifest namens Towards a Third Cinema, mit dem er die Bewegung des Tercer Cine (Drittes Kino) einläutete. Die Zahl wählten die beiden Revolutionäre natürlich nicht ganz unbewusst.

Das sogenannte erste Kino war in ihren Augen das US-amerikanische System Hollywood mit seinen illusorischen Werken und dem einzigen Ziel, aus Unterhaltung möglichst viel Profit zu schlagen. Als zweites Kino hingegen galt der europäische Autorenfilm, der sich ganz auf den individuellen Ausdruck des jeweiligen Regisseurs konzentrierte. Für Fernando E. Solanas galt diese künstlerische Attitüde wenig – der Filmemacher sollte sich seiner Meinung nach als Teil eines Kollektivs begreifen und die Massen zu revolutionärem Aktivismus inspirieren. Um Zensur zu vermeiden, wollte er die Filme nur noch öffentlich und nicht mehr in herkömmlichen Kinos vorführen.

Spitzt die Federn!
Mit seinen Forderungen fand Fernando E. Solanas regen Anklang – in Kuba und Bolivien formierten sich Parallelbewegungen, und in Brasilien war der politische Filmemacher Glauber Rocha überzeugt davon, dass das neue Kino die alten Systeme überwinden würde. Auch über den Ozean schwappte die Revolutionswelle und animierte zum Beispiel den senegalesischen Djibril Diop Mambéty zu filmischem Aktivismus.

Und wie sieht es heute aus? Neokolonialismus, Exotisierung und Eurozentrismus sind noch lange nicht überwunden. Allein der Begriff des World Cinema spricht problematische Bände. Was bitte ist denn World Cinema? Und was ist es nicht? Im Allgemeinen bezeichnet der Begriff Filmindustrien außerhalb der Vereinigten Staaten – und letztere sind damit automatisch das einzig wahre Nonplusultra? Für solche Themen außerhalb der Franchises à la Twilight 4: Breaking Dawn – Biss zum Ende der Nacht – Teil 1 und Der Hobbit: Eine unerwartete Reise kann ein bisschen mehr Bewusstsein nicht schaden. Und die Sache mit dem deutschen Kino ist auch noch nicht geklärt. Will nicht mal gleich jemand das nächste Manifest aufsetzen?

Was die Menschheit sonst noch im (Film)Jahr 1969 bewegte:

Drei Filmleute, die geboren sind
01. März 1969 – Javier Bardem, malender Verführer in Vicky Cristina Barcelona
14. Mai 1969 – Cate Blanchett, die schöne Galadriel aus Der Herr der Ringe: Die Gefährten
28. August 1969 – Jack Black, unkonventioneller Musiklehrer in School of Rock

Drei Filmleute, die gestorben sind
02. Februar 1969 – Boris Karloff, ikonisches Monster aus Frankenstein
22. Juni 1969 – Judy Garland, singende Hexenkillerin aus Der Zauberer von Oz
09. August 1969 – Sharon Tate, Ehefrau von Roman Polanski

Die großen Festival- und Award-Sieger waren unter anderem
Oscars – Oliver! von Carol Reed (Bester Film, Bester Regisseur)
Goldene Palme – If… von Lindsay Anderson
Goldener Bär – Frühe Werke von n/a

Die drei kommerziell erfolgreichsten Filme
Butch Cassidy und Sundance Kid – Zwei Banditen von George Roy Hill
Asphalt-Cowboy von John Schlesinger
Easy Rider von Dennis Hopper

Drei wichtige Ereignisse der Nicht-Filmwelt
20. Juli 1969 – Neil Armstrong wandert als erster Mensch auf dem Mond herum
03. Oktober 1969 – am Alexanderplatz wird der Berliner Fernsehturm eröffnet
06. Dezember 1969 – während eines Konzerts der Rolling Stones nahe San Francisco kommt es zu einer Messerstecherei mit den Hells Angels

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