Filme schauen ist die einfachste Sache der Welt. Und zwar so lange, bis das Interesse am neusten Stoff aus Nollywood oder Hongkong geweckt ist. Da wird es plötzlich schwierig, in unserer globalisierten Konsumwelt an entsprechende DVDs zu kommen. Und dabei haben wir es heute schon verhältnismäßig leicht. Mitte des vergangenen Jahrhunderts erschöpften sich die westlichen Kenntnisse über das asiatische Kino weitestgehend im Werk von Yasujiro Ozu.
Und dann kam 1951 die italienische Sprachenlehrerin Giuliana Stramigioli, die der Unitalia Film einen Streifen für das Filmfestival in Venedig vorschlug: Rashomon – Das Lustwäldchen. Plötzlich war die Sicht auf den japanischen Film eine andere, denn was die Kritiker da auf der Leinwand sahen, widersprach allen etablierten Sehgewohnheiten – und es war gut. Akira Kurosawa erhielt für sein Werk den Goldenen Löwen und die internationale Filmgeschichte war um ein Kapitel reicher.
Das kleine Problemchen mit der Wahrheit
Aber was haben der Radikale Konstruktivismus, die kognitive Verzerrung und Carrasco, der Schänder denn nun gemeinsam? Ihr gemeinsamer Nenner ist Rashomon – Das Lustwäldchen, dessen bizarrer deutscher Titelanhang auf nichts Banaleres als einen Übersetzungsfehler zurückzuführen ist. Der Film erzählt die Geschichte eines Mordes und einer Vergewaltigung, und was die eigenen Augen dabei sehen, ist die Wahrheit. Oder etwa nicht?
Der Plot von Rashomon mag vergleichsweise trivial sein, die Erzählstrategie ist es ganz bestimmt nicht. Das Phänomen ist ja allgemein bekannt: befragst du nach einem Autounfall vier verschiedene Zeugen, bekommst du vier verschiedene Versionen des Unfallhergangs. Dieses Prinzip machte sich Akira Kurosawa zunutze und drehte einen Film, der sich mit Fragen nach einer objektiven Wahrheit, Schuld und Ursache auseinandersetzte. Psychologen erklärten mit dem Streifen das eben beschriebene Unfallzeugen-Problem und Philosophen benutzten ihn sogar, um damit die Realität infrage zu stellen.
Vierhundertundsieben Einstellungen und eine irre Lache
Wenn ich mich aber nicht irre, sind wir hier filmhistorisch unterwegs, und auch in dieser Hinsicht bot Rashomon – Das Lustwäldchen einiges an Innovationen, auch wenn das die japanischen Kritiker vorerst nicht erkannten und ihren europäischen Kollegen wegen ihrer Euphorie sogar Exotismus unterstellten. Die drei Handlungsebenen, geniale Akteure wie Toshirô Mifune als wahnsinnig lachender Bandit und die überzeugende Verschmelzung und Umsetzung zweier bekannter Novellen von Ryûnosuke Akutagawa sprachen jedoch für sich.
Akira Kurosawa kannte sich aber nicht nur mit dem Erzählen aus, sondern auch mit filmischen Mitteln. Während des Ganges durch den Dämonenwald richtete er gleich mehrere Kameras auf seinen Hauptdarsteller und montierte sein Material zu einer gleitenden Bilderflut wie aus einem Guss. Der Experte Donald Richie stellte sogar fest: „Es gibt 407 separate Einstellungen in der Gesamtheit dieses Films… Das ist mehr als doppelt so viel wie in einem gewöhnlichen Film, und diese Einstellungen machen noch nicht einmal auf sich selbst aufmerksam.“ Wie war das noch gleich? Was ich mit eigenen Augen sehe, ist die Wahrheit?
Und der Film erstrahlt in einem neuen Licht
Dann ist da noch die Sache mit dem Licht. Dutzende Abhandlungen existieren über die sogenannte Dialektik des Lichts in Rashomon – Das Lustwäldchen, die dem Publikum bei der Suche nach Gut und Böse im Film Hinweise liefern soll. Tatsächlich hat der Lichteinsatz von Akira Kurosawa alle Aufmerksamkeit verdient. Selbstbewusst warf er nämlich einige Standardregeln einfach über den Haufen und filmte mit der Kamera direkt in die Sonne. Auch große Reflektoren kamen zum Einsatz, wenn ihm das natürliche Licht nicht ausreichte.
Aber auch in Rashomon ist nicht alles eitel Sonnenschein. Die Anfangssequenz wird sogar erst durch den strömenden Regen atmosphärisch aufgeladen. Nur schade, dass die Objektive es partout nicht hinbekamen, die kleinen Wassertröpfchen auf Filmstreifen zu bannen. Also färbte der Regisseur kurzerhand Wasser mit schwarzer Tinte ein und machte es so sichtbar für die Linsen. Dass eine derartige Meisterleistung bis heute ihresgleichen sucht, überrascht kaum. Martin Ritt versuchte sich 1964 an einem Remake im Westerngewandt. Carrasco, der Schänder mit Paul Newman in der Hauptrolle war, vielleicht zu Unrecht, ein grandioser Flop. Aber wer weiß das schon, das mit dem Recht und dem Unrecht?
Was die Menschheit sonst noch im (Film)Jahr 1950 bewegte:
Drei Filmleute, die geboren sind
22. Februar 1950 – Julie Walters, Molly Weasley aus Harry Potter und der Stein der Weisen
03. August 1950 – John Landis, der Regisseur des legendären Schlock – Das Bananenmonster
21. September 1950 – Bill Murray, professioneller Geisterjäger aus Ghostbusters – Die Geisterjäger
Drei Filmleute, die gestorben sind
03. Januar 1950 – Emil Jannings, der Hotelportier aus Der letzte Mann
07. April 1950 – Walter Huston, Howard aus Der Schatz der Sierra Madre
23. Oktober 1950 – Al Jolson, Sänger und Tonfilmpionier aus Der Jazzsänger
Die großen Festival- und Award-Sieger waren unter anderem
Oscar – Der Mann, der herrschen wollte von Robert Rossen (Bester Film, Hauptdarsteller, Nebendarstellerin)
Goldener Löwe – Schwurgericht von André Cayatte
British Film Academy Award – Fahrraddiebe von Vittorio De Sica
Die drei kommerziell erfolgreichsten Filme
Cinderella von Clyde Geronimi, Hamilton Luske und Wilfred Jackson
Die ist nicht von gestern von George Cukor
Duell in der Manege von George Sidney
Drei wichtige Ereignisse der Nicht-Filmwelt
06. Juli 1950 – Mit dem Görlitzer Abkommen wird der Grenzverlauf zwischen DDR und Polen festgelegt
15. September 1950 – mit der Landung bei Incheon beginnt eine erste Wende im Koreakrieg
Joseph McCarthy startet seine Kampagne gegen die angebliche Unterwanderung des Regierungsapparats durch Kommunisten