1929 - Surreale Ängste in Ein andalusischer Hund

16.01.2012 - 08:50 Uhr
Un Chien Andalou bildet den Höhepunkt des Surrealismus
Les Grands Films Classiques / moviepilot
Un Chien Andalou bildet den Höhepunkt des Surrealismus
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Heute führt uns unsere Filmgeschichtsrubrik zurück ans Ende der Goldenen Zwanziger. 1929 drehten Salvador Dalí und Luis Bunuel gemeinsam einen Kurzfilm, der auch das heutige Publikum noch zu schocken vermag: Un Chien Andalou.

Träume sind ein unerschöpfliches Thema. In unseren Träumen verarbeiten wir die Geschehnisse des Tages, unsere Ängste und Wünsche. Fliegen, unsichtbar sein, wilde Verfolgungsjagden, alles ist möglich im Traum, und manchmal vermag es uns sogar zu erschrecken. Kleine Notizbücher liegen auf vielen Nachttischen überall auf der Welt und warten darauf, die leeren Seiten gefüllt zu bekommen mit den vielfältigen Erinnerungen an lebhafte Stunden des Tiefschlafes. Manche Träume schaffen es sogar aus dem privaten Notizbuch heraus, sind Inspirationsquellen für Gemälde, Geschichten, Fotos. Und wer Salvador Dalí oder Luis Buñuel heißt, macht einen Kurzfilm aus ihnen.

Der Regisseur Luis Buñuel und der Maler Salvador Dalí kannten sich bereits aus ihrer Studienzeit. Als sie sich 1928 in Figueres in Spanien wiedertrafen, unterhielten sie sich über das bewusste Thema, das so viele Gesprächsabende mit interessanten Anekdoten füllt: ihre Träume. Sie sollten in Form von Bildern verewigt werden, die ein internationales Kinopublikum schockten und auch heute ihren Weltruhm nicht eingebüßt haben.

Über dem Realismus
Die Wirklichkeit übersteigen – das war das Ziel der Surrealisten, die zu diesem Zweck Formen, Dinge, Zustände auf vorher unmögliche Art und Weise kombinierten und teilweise auch vor Drogen nicht zurückschreckten um bei erweitertem Bewusstsein auszudrücken, was ihnen mit einer kontrollierten Arbeitsweise nicht möglich war. Wie fast jede Strömung des zwanzigsten Jahrhunderts war natürlich auch der Surrealismus durch die Theorien des allgegenwärtigen Sigmund Freud beeinflusst. Träume und das Unterbewusste waren also obligatorische Themen und auch im Umsturz von althergebrachten Normen und Werten versuchten sich die Künstler der Szene.

Also war es nur eine Frage der Zeit bis sich auch das Medium Film vom euphorischen Umschwungsgeist des Surrealismus anstecken ließ. Zahlreiche absurd anmutende Kurzfilme entstanden, indem diverse Dichter und Denker sich auf Freuds imaginäre Couch legten und frisch und frei drauflos assoziierten – automatisches Schreiben nannten sie diese Methode. Entr’acte von René Clair kam dabei heraus, oder Werke wie L’Étoile de mer von Man Ray. Und dann kam er. Der Film, der den Surrealismus nicht nur fest etablieren, sondern ihm auch gleich noch die Krone aufsetzen sollte. Es kam: Ein andalusischer Hund.

Ameisen, Eselskadaver, Priester und Brüste
Die berühmtesten Bilder in dieser unterhaltsamen Aneinanderreihung immer abstruser erscheinender Sequenzen sind den Träumen ihrer Macher nachempfunden: ein Mann, gespielt von Luis Buñuel höchstselbst, steht auf seiner Veranda und wetzt ein Rasiermesser. Er schaut zum Mond, den just in diesem Augenblick eine schmale Wolke in zwei Hälften zerteilt. In der nächsten Einstellung ist es das Auge einer Frau (Simone Mareuil), das von dem Rasiermesser zerschnitten wird – ein Anblick, der Urängste wachruft und sich tief ins Gedächtnis gräbt. Wenig tröstlich das Wissen, dass bei der Umsetzung Bunuels aufwühlenden Traumes nur ein Kuhauge dran glauben musste. Da ist die Hand voller Ameisen, basierend auf dem Traum von Salvador Dalí, schon leichter zu verkraften.

Aber auch sonst lässt sich Ein andalusischer Hund, dessen Titel – wie sollte es auch anders sein? – übrigens in keinerlei Verhältnis zu seinem Inhalt steht, nicht lumpen. Wir werden Zeuge weiblicher Brüste, die sich unter den Händen eines Mannes in ein Gesäß verwandeln und schauen einem Mann (Pierre Batcheff) dabei zu, wie er an einem Seil zwei mit Eselskadavern gefüllte Konzertpianos und Geistliche in schwarzer Soutane durch den Raum zieht. Das Spektakel wird untermalt von Musik, die gegensätzlicher kaum sein könnte. Tristan und Isolde von Richard Wagner geben sich mit argentinischen Tangoklängen die Klinke in die Hand.

Unerwarteter Erfolg
Schließlich kam der Tag der Uraufführung und Luis Buñuel schleppte einen Haufen emotionalen und materiellen Ballast mit sich herum. Aus Angst vor der wütenden Reaktion der Zuschauer auf diesen doch sehr ungewöhnlichen Film hatte er sich die Taschen mit Steinen vollgestopft. Weit gefehlt – das Publikum jubelte, gewährte Standing Ovations und auch die Kritik bedachte Ein andalusischer Hund mit so wohlwollenden Worten, dass sich Salvador Dalí und sein Kollege ein Jahr später noch einmal für Das goldene Zeitalter zusammentaten. Solchen Erfolg hatte sich nicht einmal ein Luis Buñuel träumen lassen.

Was die Menschheit sonst noch im (Film)Jahr 1929 bewegte:

Fünf Filmleute, die geboren sind
03. Januar 1929 – Sergio Leone, Regisseur von Zwei glorreiche Halunken
04. Mai 1929 – Audrey Hepburn, Holly aus Frühstück bei Tiffany
31. Oktober 1929 – Bud Spencer, Kultrabauke aus Filmen wie Vier Fäuste für ein Halleluja

Drei Filmleute, die ihr Debut feierten
Judy Garland in The Big Revue mit den Gumm-Schwestern
Paulette Goddard in Berth Marks von Lewis R. Foster
Ray Milland in Piccadilly – Nachtwelt von Arnold Bennett

Oscar-Gewinner
Bester Film: The Brodway Melody von Harry Beaumont
Bester Schauspieler: Warner Baxter in In Old Arizona von Irving Cummings
Beste Schauspielerin: Mary Pickford in Coquette von Sam Taylor

Drei wichtige Ereignisse der Filmwelt
20. Januar 1929 – In Old Arizona ist der erste Tonfilm, der außerhalb des Studios gefilmt wird
16. Mai 1929 – Zum ersten Mal werden die Academy Awards verliehen
Hallelujah! von King Vidor ist der erste Hollywoodfilm mit einem komplett schwarzen Cast

Drei wichtige Ereignisse der Nicht-Filmwelt
29. Januar 1929 – Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque erscheint
01.-03. Mai 1929 – Beim Blutmai in Berlin werden zahlreiche Demonstranten durch die Polizei getötet
24. Oktober 1929 – mit dem Schwarzen Donnerstag beginnt die Weltwirtschaftskrise

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