Wie der Jugendschutz Filmliebhaber bevormundet

04.06.2014 - 08:50 UhrVor 6 Jahren aktualisiert
Blutgericht in Texas
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Blutgericht in Texas
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Obwohl eine staatliche Zensur laut Grundgesetz nicht stattfindet, werden in Deutschland jeden Monat zahlreiche Filme indiziert oder sogar beschlagnahmt. Die Folge ist nicht etwa besserer Jugendschutz, sondern eine Bevormundung erwachsener Menschen.

In den vergangenen Jahren hat sich die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, kurz BPjM, scheinbar in umfänglichem Maße liberalisiert. Die Zahl der von Neu- oder Folgeindizierung bzw. gar bundesweiter Beschlagnahmung betroffenen Filme lag nicht selten unterhalb der Zahl jener Titel, die aus ihrer Sammlung vermeintlich jugendgefährdender Medien (auf Antrag oder auch wegen Verjährung) schlussendlich entfernt wurden. Überfällige Listenstreichungen oder mühsam erzwungene Verbotsaufhebungen prominenter Titel verführten zu der Annahme, die insbesondere in den 1980er Jahren hochschlagenden Einzugswellen seien soweit abgeebbt, dass leidgeplagte Freunde des unterschlagenen Films kaum noch tatsächliche Gründe zur Beanstandung hätten. Die Zeit der seligen 131er, wie die aus dem Verkehr gezogenen Filme gern genannt werden, sei im Großen und Ganzen vorbei.

Nicht zuletzt die vom deutschen Rechteinhaber jahrelang erkämpfte Freigabe des weltweit als Filmkulturgut geschützten, hierzulande indes über drei Dekaden hinweg bundesweit beschlagnahmten Meisterwerks Blutgericht in Texas (The Texas Chainsaw Massacre) konnte als eine Art symbolischer Befreiungsschlag gewertet werden, an dem Erwachsenenbevormundung sich nicht länger durchzusetzen imstande war. Der Schein allerdings trügt: Das selbsternannte 3er- bzw. 12er-Gremium der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) befindet im Dienste des Jugendschutzes noch immer fleißig über die Legitimität und angebliche strafrechtliche Relevanz von Medien, “die grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder menschenähnliche Wesen schildern”.

Jeden Monat werden somit zahlreiche Filme bzw. Medienträger neu- oder folgeindiziert und in vermeintlich schwerwiegenden Fällen auch von deutschen Gerichten beschlagnahmt - nicht etwa, weil sie aus nachvollziehbaren Gründen als gesetzeswidrig gelten (tier- und kinderpornographische oder volksverhetzende und anderweitig verleumdende Inhalte), sondern (fiktive) Gewalt “in einer die Menschenwürde verletzenden Weise” darstellten. Das kann theoretisch jeden Film betreffen, der diesem nichttransparenten, subjektiv urteilenden Gremium aus willkürlichen Gründen als gewaltverherrlichend erscheinen mag, also prinzipiell jede Kunst, die ihre Augen nicht vor der Welt verschließt.

Praktisch trifft das vor allem Filme, die aufgrund ihrer dargestellten Härten keine FSK-Freigabe erhielten (entsprechend geprüfte und ab 18 Jahren zugelassene Titel sind vom Irrsinn mittlerweile befreit). Im Monat Mai des Jahres 2014 führte diese allzu bewährte Praxis zur (wiederholten) Beschlagnahme von Tenebrae, Maniac, Zombie 2, Muttertag oder dem (längst als Treppenwitz bundesdeutscher Zensurgeschichte bekannten) Ein Zombie hing am Glockenseil, aber auch zu neuerlichen Verboten von Hobo with a Shotgun, I Spit on Your Grave 2 und The Human Centipede II (Full Sequence). Zu den im vergangenen Monat (neu) eingezogenen Titeln zählte selbst der gefeierte Pornospielfilm The Image von Radley Metzger, von dem 40 Jahre nach seiner Veröffentlichung plötzlich eine so große Gefahr ausgehen soll, dass der Handel mit ihm unter Strafe gestellt werden musste.

Der Blick über die alphabetisch sortierte Liste aller in Deutschland indizierten und beschlagnahmten Filme offenbart weitere Verrücktheiten. Noch immer sind hierzulande Genreklassiker wie Das letzte Haus links, Über dem Jenseits, Tanz der Teufel, Braindead oder Zombie – Dawn of the Dead in ihren Ursprungsfassungen beschlagnahmt, sogar der vollkommen harmlose, surreale Stimmungsgruselfilm Das Böse soll seinem Titel derart viel Ehre machen, dass es ihn unbedingt aus dem Verkehr zu ziehen gilt. Statt diese Fime einmal zu überprüfen, von einer Renovierung oder am besten gleich Abschaffung des Systems ganz zu schweigen, werden sie insbesondere von den Amtsgerichten Tiergarten, München und Fulda regelmäßig neu eingezogen – weil irgendwo wieder einmal die soundsovielte Importversion von Titel X aufgetaucht oder zur Anzeige gebracht worden ist.

Gleichwohl die Begriffe oftmals synonym verwendet werden, gilt es zwischen Indizierung und Beschlagnahmung zu unterscheiden (ebenso wie zwischen FSK und BPjM). Die Indizierung eines Films aus Kinder- und Jugendschutzgründen sieht Vertriebs- und Werbeverbote vor, die wirtschaftlich diskutabel, aber annähernd nachvollziehbar sind. Der Film ist damit nicht beschlagnahmt, sondern nur schwerer zu beziehen. Obwohl diese Titel bereits Einschränkungen unterliegen, da sie lediglich für Erwachsene freigegeben sind, wird ihre Zugänglichkeit selbst ihnen gegenüber noch einmal verkompliziert, weil indizierte Filme nur auf spezielle Nachfrage erhältlich sind (und in großen Handelsketten oft genug gar nicht erst geführt werden). Darüber lässt sich, wie gesagt, streiten. Denn ein möglicherweise nicht konsequent gewahrter Jugendschutz darf nicht erwachsene Menschen benachteiligen und schon gar nicht den Filmen selbst angelastet werden.

Die Indizierung ist demnach nichts anderes als das Eingeständnis eines potenziell mangelhaften Jugendschutzsystems, das ohnehin nur Volljährigen erlaubte Titel noch einmal zusätzlich unter Verschluss bringen muss, um sie damit auch Erwachsenen vorzuenthalten. Wird ein indizierter Film bzw. dessen Trägermedium allerdings von einem Gericht bundesweit beschlagnahmt oder eingezogen (weil etwa die BPjM ihn nicht nur als jugendgefährdend, sondern möglicherweise strafrechtlich relevant einstuft und weiterleitet), so darf er selbst Erwachsenen nicht mehr zugänglich gemacht werden. Es ist nachfolgend illegal, ihn zu bewerben, zu vertreiben oder vorzuführen. Zuwiderhandlungen werden, Zitat Gesetzestext, “mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft”.

Wahrscheinlich erübrigt es sich zu betonen, wie absurd ein solches System ist, das indirekt auch den Artikel 5 des Grundgesetzes (“Eine Zensur findet nicht statt.”) Lügen straft. Die Praxis der BPjM, mit all ihren diffusen Maßstäben, folgt dabei noch einer irrationalen, sich selbst widersprechenden Logik: Filme, die nur ab 18 Jahren geeignet und auch entsprechend freigegeben sind, werden indiziert, um nicht in die Hände Minderjähriger zu gelangen (in denen sie eigentlich sowieso nichts zu suchen hätten). Ferner werden einige dieser Filme von kunstfernen Juristen, denen der Unterschied zwischen Fiktion und Realität offenbar unklar ist, zusätzlich als strafrechtlich relevant eingestuft und ganz aus dem Verkehr gezogen, damit sowohl Minderjährige als auch Erwachsene vor ihnen sicher sein können.

Um zu begreifen, welchen aberwitzigen Kausalitätsvermutungen die jeweiligen Einschätzungen der Zensoren Folge leisten, muss man sich nur einige Indizierungs- oder Beschlagnahmegutachten zu Gemüte führen. Sehr gut nachvollziehen lässt sich das in der Begründung dafür, warum The Texas Chainsaw Massacre (1974) jetzt nicht länger strafrechtlich relevant sei. Darin heißt es, der Film erfülle “unter heutigen Gesichtspunkten nicht den Straftatbestand des § 131 StG”, obwohl er genau deshalb bis vor Kurzem immer wieder neu beschlagnahmt wurde. Es stellt sich die Frage, inwiefern ein Film ganz plötzlich nicht mehr “eine Verherrlichung oder Verharmlosung” von “Gewalttätigkeiten ausdrückt”, wenn er dafür doch überhaupt erst an den hiesigen Zensurpranger geriet. Der Film ist noch immer derselbe. Und das amtliche Empfinden darüber, was angeblich die Menschenwürde verletzt, kann sich nicht vom einen auf den anderen Tag ändern.

Doch wie sich den Begründungen entnehmen lässt, scheinen die Kulturanalysen der BPjM im ständigen Wandel begriffen. Recht plötzlich stellte das Gremium fest, die mörderischen Absichten von Leatherface und Co. seien “weder detailliert noch als realitätsnah einzustufen”, den Darstellungen fehle “die Eignung, die Empathiefähigkeit heutiger Minderjähriger gegenüber Opfern von Gewalttaten in sozialethisch-desorientierender Weise zu vermindern oder gar zu beseitigen”. Und es kommt noch besser: Die Protagonisten, so das Urteil, eigneten sich offenbar nicht mehr “als Identifikationsmuster”, weshalb “Nachahmungseffekte nicht zu befürchten” seien. Gott sei Dank!

Wer ist dieses Gremium, das allen Zuschauern des Landes die Entscheidung abnimmt, ob sie sich mit den Figuren des Films identifizieren könnten? Warum wird ein Film auf “die Empathiefähigkeit Minderjähriger” hin untersucht, der für Minderjährige nie gedacht und auch nie freigegeben war? Was haben solch willkürliche Behauptungen damit zu tun, ob ein Film einen (imaginierten) Straftatbestand erfüllt? Und wieso glauben augenscheinlich weltfremde BPjM-Gutachter respektive Staatsanwälte und Richter, erwachsene Menschen seien jahrelang nicht selbst in der Lage gewesen, Inhalt und Wirkung dieses unbestrittenen Horrorklassikers zu überprüfen? Sie nämlich mussten sich erst in rechtlichen Grauzonen bewegen, um ihn überhaupt sehen zu dürfen.

Mag die Akte Leatherface jetzt nach vielen Jahren endlich geschlossen sein, setzt sich das Indizieren und Beschlagnahmen anderer Titel munter fort. Eine relativ aktuelle, selbstredend kolportagehafte Dokumentation verleiht besagtem Gremium unter Führung der einschlägig bekannten Elke Monssen-Engberding plötzlich ein Gesicht. Die Doku kann als Quasi-Fortsetzung zu Mama, Papa, Zombie – Horror für den Hausgebrauch verstanden werden (wir erinnern uns: Killervideos!) und erläutert die leidige Praxis am Beispiel des mittlerweile nicht nur indizierten, sondern auch bundesweit beschlagnahmten Films Hostel: Part II. Natürlich wenden sich die Gremiumsmitglieder für die Kamera noch einmal extra angewidert ab, geradezu entsetzt ob der Brutalität des Films, und natürlich verteidigt Monssen-Engberding die Rolle als Jugend- und Erwachsenenschützerin souverän wie eh und je.

Ihrer im traditionellen, will heißen: auf jeden beliebigen Film anwendbaren, BPjM-Sprech vorgetragenen Einschätzung nach seien die Gewaltdarstellungen in Hostel II “sehr breit ausgespielt, grausam, unmenschlich und in einer die Menschenwürde verletzenden Art und Weise präsentiert”. Das Verdikt also: weg damit. Und Strafe für jeden, der es anders zu sehen und den Film zu vertreiben wagt. Obgleich sich natürlich auch hier die Frage stellt, nach welchen Kriterien das unechte Blutgesuppe eines Eli Roth nun wesentlich schlimmer oder sogar justiziabel sein soll als etwa die auch nicht gerade zarten Leichenfleddereien von, sagen wir, Django Unchained (beliebiges Beispiel) oder anderen Filmen, die im Gegensatz dazu auch noch für Jugendliche geeignet seien. Und kann Elke Monssen-Engberding eigentlich mal erklären, was an einer nicht-unmenschlichen, also demzufolge “menschlichen Gewaltdarstellung” weniger beanstandenswert wäre?

Nichts liegt mir ferner als Stammtischgewäsch, als irgendein Populismus vom unmündigen, um seine Freiheit gebrachten Bürger. Dennoch: Es gibt kein europäisches Land, das eine annähernd vergleichbare Zensur hat. Es gibt keine andere westliche Nation, in der künstlerische Werke vergleichbar systematisch eingeschränkt werden. Überhaupt fiele mir kein anderer sogenannter hochentwickelter Staat ein, der Filmkunst unter den Generalverdacht strafrechtlicher Relevanz stellt. Der reine Unterhaltungsfilme als etwas Verrohendes bewertet, das erwachsenen Menschen durch richterliche Beschlüsse nicht zugänglich gemacht werden darf. Mit Jugendschutz hat das nichts zu tun. Es geht einzig darum, eine amtliche und nach reinem Geschmacksermessen durchgeführte Kulturselektion zu betreiben, die sich Filmfreunde gefallen lassen müssen.

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