Vertigo und der Sinn des Sehens

09.02.2019 - 08:50 UhrVor 6 Jahren aktualisiert
If I let you change me, will that do it?
Paramount/moviepilot
If I let you change me, will that do it?
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Was macht ein Film mit dir? Lässt du ihn in dein Leben, lässt du dich auf ihn ein, lässt du seine Welt die deine berühren, verändern, bereichern? Oder ist ein Film für dich bloß etwas, das dort vorne vor sich hin läuft? Welchen Sinn gibst du ihm?

Vertigo ist Alfred Hitchcocks tiefgründigster, vielschichtigster, fesselndster Film. So tief und überwältigend, dass er bei seiner Veröffentlichung weder Kritiker noch Publikum überzeugen konnte und nicht viel mehr als seine Produktionskosten einspielte. Erst mit den Jahren wurde Vertigo als das erkannt, was er ist: Hitchcocks definitives Meisterwerk, so viel mehr als die Geschichte eines Mannes, der nicht loslassen kann.

So viel mehr als nur ein Kommentar zu einem Film ist auch unser Kommentar der Woche, denn Vertigo ist hier nur der Ausgangspunkt für eine Frage, die weit über diesen Film, diesen einen Film hinaus geht. Big_Kahuna stellt dir eine einfache Frage ... aber kannst du sie beantworten? Wirklich beantworten? Denn wie der Film und sein Kommentar, ist auch die Antwort ... eventuell mehr.

Der Kommentar der Woche von Big_Kahuna zu Vertigo!

Was ist der Sinn des Filmeschauens?
So einfach die Frage gestellt ist, so unterschiedlich können die Antworten auf diese Frage von der Individualität beantwortet werden.

Hineingeworfen in die Laufbahn der medialen Beschäftigung(stherapie) wird man sich über die Jahre zwangsläufig irgendwann die Frage gestellt haben, was Filme überhaupt für eine Intention haben, spiegeln sie doch eigentlich die Phantasie-/Gedankenwelt eines Menschen wieder, den man den Regisseur und/oder Drehbuchautor nennt.
Während man zu glauben scheint, dass wenn man so in sein Fernsehgerät hineinschaut, man ein einseitiges Beschallungsverhältnis eingeht, so ist es doch eigentlich ein innerer Dialog zwischen dir und dem, was der Regisseur dir sagen will.

Hätte man diese Projektionsfläche nicht, die viel zu oft für monotones Schindluder herhalten muss, dass dem Zuschauer suggeriert, er sei nur Zuschauer, ist das Filmeschauen letztlich doch eigentlich immer eine Interaktion.
Eine Interaktion zwischen DIR und den Bildern. Eine Interaktion zwischen DIR und dem, was der Regisseur dir erzählen würde, hätte er keine Kamera und auch kein Medium, auf das er das, was er bildlich festgehalten hat, bannen könnte.
Selbst wenn der Regisseur sich nichts dabei dachte, besteht immer noch dieses Verhältnis, denn DU schaust den Film und DU denkst im Idealfall etwas dabei oder lässt das Gesehene einfach wirken.

Es ist, als würdest du deine Lieblingsmusik hören und wie jedes Mal aus unerklärlichen Gründen an der einen Stelle eine Gänsehaut bekommen, oder dir ein Gemälde ansehen, das du aus unerklärlichen Gründen anziehend findest, denn auch hier stehen Menschen dahinter, aus dessen Gedankenwelten oder reiner Willkür jenes entstanden ist, was du dir dort ansiehst oder anhörst.
Und vielleicht ist es die Überschneidung der Erfahrungen oder Interessen der Teilnehmer dieses unsichtbaren Dialogs, dem man sich bewusst aussetzt, was letztlich für die lang anhaltende Gänsehaut, und damit für die emotionale Reibung zwischen uns Menschen sorgt.

Denn egal wie sehr man vom Schraubstock des Kapitalismus eingespannt wird und alsbald am kalten Metall festrostet, so ist es immer noch die Interaktion zwischen uns Menschen, die trotz des Herunterbrechens auf den kleinsten gemeinsamen Nenner (moderne Kommunikation), noch bestehen geblieben ist, die aber immer weiter vereinfacht bzw. entmenschlicht wird, während sich der Mensch eigentlich weiterentwickeln sollte und sich immer tiefer damit befassen sollte, wer er ist und was er vor hat.

Und während der eine sich diesem inneren Dialog permanent verweigert, so versuche ich ihn immer wieder einzugehen, wieder und wieder, doch warum?

Ist halt dein Hobby würden die einen sagen.
Ich höre am liebsten Musik, du schaust gern Filme, der Nächste spielt am liebsten Counterstrike. So ist das eben.
Und wo sie vielleicht Recht hätten, gehe ich einen Schritt weiter.

Ist es nicht vielleicht so, dass man damit immer wieder versucht angesichts der Sinnlosigkeit des persönlichen Lebens, jener Sinnlosigkeit verzweifelt den Rücken zuzuwenden?
Sich abwenden von dem schwarzen Bildschirm, der auf uns alle irgendwann wartet. Sich fernhalten vom Gedanken an den Übergang der eigenen biologischen Hülle zum Nährboden für neues Leben.
Sich verschließen vor der Tatsache, dass man selbst nicht das Zentrum des (eigenen) Lebens ist, sondern man nur ein mikroskopisch kleiner Teil eines gigantischen Zufalls ist.
Vielleicht ist es genau das, was mich dazu treibt, mich jeden Tag aufs neue diesem Dialog auszusetzen, die Gier nach subtiler Reibung zu befriedigen und den Wissensdurst zu stillen, dessen Ursprung in seiner Gänze vielleicht doch immer unerklärlich bleiben wird.

Eine mystische Symbiose aus Rationalität, emotionalem Trieb und Urängsten, die, von Alfred Hitchcock gezeichnet, zur Person des Scottie Ferguson (brillant: James Stewart) verschmolzen und ein Meisterwerk der Filmgeschichte schufen: Vertigo.
Vielleicht ist es das Interesse am Film, die Erfahrung der unbefriedigten Liebe und der Drang nach Rationalität, die Alfred Hitchcock zu diesem gigantischen Film bewegten, und mich gleichzeitig in der Überschneidung blitzartig, und doch unbemerkt in mein Herz traf, wie ein Pfeil.
Auch das wird wahrscheinlich unerklärlich bleiben und wahrscheinlich muss sich jeder selbst seine eigenen Fragen stellen.

Letztlich ist das, was ich hier schreibe, auch nur der Abgleich zu DEINEN (Ja, DU, der das hier liest) unvereinbaren Gedanken.

Den Originalkommentar findet ihr hier.

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