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SEX EDUCATION: Zwischen Gendergerechtigkeit und Gendergaga

03.10.2023 - 15:35 UhrVor 2 Jahren aktualisiert
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Ich habe dich so strahlend erschaffen, damit andere im Dunkeln sehen können.

Zerrissene Familien, alleingelassene Mütter u. U. drogenabhängig, sich selbst überlassene Kinder, missbrauchte Liebe, seelische und körperliche Misshandlung, Liebeskummer, Selbsthass, Eifersucht, toxische Männlichkeit, Unfähigkeit zu Lieben und zärtlich zu sein, Scham, die sexuell hemmt, Identitätsverwirrung -und Identitätssuche, soziale, ethnische und geschlechtliche Diskriminierung durch Religion und Gesellschaft und wie man Gerechtigkeit in der modernen Gesellschaft sichern kann, das sind die ernsten Seiten von Sex Education.

Diese Themen behandelt die Serie, wechselnd zwischen Lachkrampf und Weinkrampf, ja oft sogar beides zusammen mit komplexen gemischten Gefühlen, ohne die Prüderie, welche man von den meisten Serien in den den USA kennt. Es gibt so viele crazy Momente, auch Schulstreiche und gleichzeitig sieht man die Jugend von heute mit ihren Problemchen, oft mit Parallelen zur Jugend der älteren Generationen. So gibt es Szenen, die an Breakfast Club - Der Frühstücksclub von 1985 erinnern, was die Ernsthaftigkeit abseits der Teenager-Komödie betrifft, doch auch die Irrungen der neuen Generation werden bis zum cringen auf die Schippe genommen.

Die Themen sind sehr liberal, bunt und unverkrampft präsentiert, weshalb es möglich wird, dass die Serie einen ein wenig therapiert, wenn man in Sachen Sex "von gestern" ist. Die beiden treibenden Kräfte dieser Therapie sind Gillian Anderson und Asa Butterfield, als die alleinerziehende Sextherapeutin Jean Milburn, Mutter von Otis, der in seiner Schule ein Sex-Therapie-Geschäft aufzieht.

Natürlich stecken hinter den Problemen mit dem Sex oft psychische Ursachen, die aus einer persönlichen Biografie resultieren. Am Ende stehen damit nicht nur der Reifeporzess der Jugendlichen im Fokus, sondern auch das ganze soziale Gefüge profitiert, weshalb die Älteren und Eltern ebenso ein Co-Coming-of-Age erleben und neues entdecken.

Der Soundtrack ist deshalb auch sehr abwechslungsreich und deckt mehrere Generationen ab, von den 50er Jahren bis heute. So war ich ganz überrascht, dass sie aus meinen gehassten 80er Jahren, wo so viel üble affige Musik produziert wurde, solch eine Perle von U2 wie "With or Without You" ausgegraben wurde. Die Szene in der es verwendet wird, möchte ich nicht spoilern, aber ich brach in Tränen aus.

+++++ ACHTUNG SPOILER - VIDEO +++++

https://youtu.be/Jcogx9KogtQ

+++++ SPOILER ENDE +++++

Von Anfang an zielt Sex Education darauf ab divers, authentisch, empathisch und wertschätzend zu sein, doch viele beklagen in der letzten Staffel, dass man es mit der Wokeness übertrieben habe.

Genau so ist es.

Übertrieben und wirklichkeitsfern ist Sex Education.

Aber wer genau hinschaut bemerkt das Augenzwinkern, so dass man einem ironischen Gendergaga die positiven Seiten der Gendergerechtigkeit gegenüberstellt. Jeder kann innerhalb dieser Bandbreite auswählen, wie weit er es mit der Achtsamkeit gegenüber Menschen hält, die von der Gesellschaft an den Rand gedrängt werden. Dazu zählen Veganer, Homosexuelle, Transsexuelle, immer noch Frauen, die Opfer von sexueller Gewalt werden, Einwanderer und Behinderte. Rücksichtslos werden sie Opfer überkommender moralischer Vorstellungen oder einfach missachtet.

Bei aller dümmlichen Wokeness und übertriebener political correctness, die es gibt, kann doch niemand leugnen, dass man die Diskriminierung weiterer Bevölkerungsteile gutheißen sollte.

Die Serie plädiert für die geistige Reifung von Menschen jeden Alters zu sozial-emotional stabilen Wesen, die bei allem Kampf um die eigene Daseinsvorsorge nicht labil werden und die schwachen Glieder unserer Gesellschaft zu Sündenböcken und Prellböcken machen. Immer noch werden auch in unserer westlichen Gesellschaft Menschen unterdrückt von jenen, die Führungsverantwortung inne haben. Ob das Vorgesetzte sind, Lehrer, Priester oder Bosse in Unternehmen, oft wird die gute Leistung nicht gewertschätzt, aber Minderleistung bestraft. Dass man mal ein Fehler macht ist menschlich, aber oft genug werden Menschen dafür psychisch fertig gemacht von denen, die über ihnen stehen und geben diese toxischen Gefühle an die Nächstschwächeren weiter.

In Sex Education geht es weniger darum, wie die Welt tatsächlich ist, obwohl sie schon hart genug beschrieben wird, sondern es geht darum was man tun kann, dass sie gerechter wird.

Als Ungerecht gebrandmarkt, wir in der Serie nicht nur das Bildungssystem sondern auch die Kirche, die bigott auf "Liebe alle Menschen" macht, aber Homosexuelle etc. als Sünder bezeichnet und ausschließt, ja selbst wenn die Betroffenen rechtschaffen und wahrhaftig sind. Verhielten sie sich so tugendhaft wie Jesus, sind sie homosexuell, werden sie verdammt. Wer zu einer der abrahamitischen Weltreligionen gehört, der muss sich die Frage stellen, ob Gott es tatsächlich gewollt hat, dass man Menschen aus Gründen von Glaubensätzen schlecht behandelt, obwohl sie niemandem schaden, vielleicht sogar eine große Hilfe für die Gerechtigkeit darstellen.

Sex Education spielt als eine der wenigen Serien im ländlichen Groß Britannien, genauer gesagt in Wales, in der fiktiven idyllischen Kleinstadt Moordale. Das ist genau das was man in England "The Middle of Nowhere" nennt, was wohl der Grund ist, dass die Welt dort ein wenig rückständiger ist, als in der Großmetropole London. Das tut der Dramaturgie gut, doch lässt eben Authentizität vermissen, weil es einem wie ein Mikrokosmos in einer Schneekugel vorkommt. Skins – Hautnah aus 2007 ist die bessere Serie, wenn es um das Abbilden von Teenager-Coming-of-Age in einer größeren Stadt geht, doch sie behandelt eben nur die Ausläufer der Generation Y und nicht wie hier die Generation Z.


Normalerweise binge ich Serienstaffeln wie das Krümelmonster, aber da es die finale Staffel ist, habe ich mich vorgenommen pro Tag eine Folge zu schauen. Am 7. Tag waren es dann die letzten zwei auf einmal.

Das war eine gute Entscheidung, denn ich war mit diesem Programm schon so emotional überfordert, dass ich, wenn ich sie an einem Stück gesehen hätte, wohl nach 4 oder 5 Episoden einfach emotional abgeschaltet hätte. Es ist einfach nicht auszuhalten, die ganze emotionale Gewalt auf einmal zu erfahren, ohne dass man irgendwann blockiert. Deshalb rate ich dazu, die letzte Staffel aufzuteilen. Auch bei den zwei letzten Episoden habe ich die Serie für ein paar Minuten pausiert oder zwei Stunden später weitergeschaut, wie bei einem guten Buch, das man für ein paar Stunden weglegt, um es dann wieder hervorzuholen.

Die Serie produziert von Anfang an Humor und Tränen, was sie bis zum Schluss nicht aufgegeben hat, sondern sie hat noch gewaltig an der Schraube gedreht, dass ich sehr oft Freudetränen laut herauslachte. Am meisten litt ich mit dem homosexuellen Eric, dessen Eltern schwarze Christen sind und vor denen und der ganzen Gemeinde er seine Homosexualität verbergen muss. Er ist für mich die sympathischste schwule Tucke, die ich je erlebt habe. Man kann schwul sein okay, aber eine Tucke (ein übertrieben auf weiblich machender Schwuler - jedenfalls haben mir das Schwule so gesagt), das habe ich bisher nie ausgehalten. Doch man sieht, dass es geht, ich mag ihn als Charakter einfach, sogar mehr als Otis den Hauptcharakter. Eric übernimmt auch in der finalen Staffel die feierlichen Reden, die mich im Innersten anfassen.

Danke für diesen Cast, diesen gefühlt langen Weg und diesen euphorischen Schluss, der Mut macht die Welt ein Stückchen besser zu machen, wenn man einfach freundlicher zu seinen Mitmenschen ist, auch wenn die es gerade nicht schaffen.

Jeder hat sein Päckchen zu tragen.

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