Mord im Orient Express - Ein winterlicher Agatha Christie-Klassiker

19.09.2017 - 09:10 UhrVor 6 Jahren aktualisiert
Mord im Orient ExpressStudiocanal
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Agatha Christies Krimi-Klassiker Mord im Orient Express verfilmte der legendäre Sydney Lumet 1974 mit einem Star-Ensemble, das heute noch tief beeindruckt. Deshalb werde ich von dem spannenden Kammerspiel niemals genug bekommen.

In meiner alten Schule gab es eine Bibliothek. Sie bestand aus einem einzigen, winzigen Raum mit einer Reihe von alten, willkürlich zusammengestellten Büchern, die sichtlich durch viele Schülerhände gegangen waren. Eines Tages entdeckte ich in der großen Pause eine Ecke mit Agatha Christies Kriminalromanen. Über ein Schuljahr hinweg lieh ich mir die verschiedenen Abenteuer von Miss Marple, Tommy und Tuppence Beresford und natürlich dem Belgier (nicht Franzosen!) Hercule Poirot aus. Etwas später bekam ich zum Geburtstag eine DVD-Box der besten Agatha Christie-Verfilmungen geschenkt - unter ihnen natürlich auch Mord im Orient Express. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, welche Gefühle die erste Sichtung bei auslöste: Verwirrung, Entsetzen und leichter Schauder durchfuhren mich nach den letzten Sekunden des Films. Zurück blieb eine stille Faszination. Dieser Faszination möchte ich in meinem heutigen Herz für Klassiker nachspüren. Deshalb: Bitte alle einsteigen, der Orient Express ist bereit zur Abfahrt!

Hercule Poirot, der gefragte Privatdetektiv, gerät zufällig in einen verzwickten Mordfall. An Bord des Orient Express hat er sich eigentlich nur eingefunden, um von Istanbul nach England zurückzukehren. Doch während der Reise wird einer der Passagiere im Schlaf getötet. 12 Messerstiche und einige Indizien am Tatort bringen die komplizierten Ermittlungen ins Rollen. Fest steht: Es kann nur jemand von den übrigen Passagieren gewesen sein. Für Poirot beginnt ein Puzzlespiel, das er wild entschlossen ist, zu lösen.

Mord im Orient Express - Hercule Poirot

Der bessere Poirot

Mord im Orient Express haftete schon immer etwas sehr Klassisches an. Allein der Cast haute mich bereits nach der ersten Sichtung um. Damals hatte ich noch keine Ahnung von wichtigen Schauspielern und kannte keine einzige Person des Ensembles (Ja, ich war klein und dumm). Aber ihr Spiel bestach - im wahrsten Sinne des Wortes. Hercule Poirot wird nicht - wie einige vielleicht zuerst denken - von Peter Ustinov verkörpert, sondern von Albert Finney. Ustinov kam mit seiner sympathisch-humorigen Interpretation des Ermittlers ab 1978 besser beim Publikum an und wird heute noch vor allem mit der Figur des Poirot in Verbindung gebracht. Näher an der Vorlage allerdings ist Finneys Poirot. In Mord im Orient Express ist er sehr spitzbübisch, manchmal beinahe unverschämt und extrem eitel. Seine direkte Art und trickreiche Vorgehensweise bei den Ermittlungen machen ihn selbst zu einem Mysterium, das es zusätzlich zum Fall zu entschlüsseln gilt. Sein Genie ist unbestreitbar und Finneys Poirot traue ich schlichtweg mehr zu als der Ustinov'schen Variante.

Mord im Orient Express - Greta Ohlsson

Der Zug ist voll

Noch interessanter sind die an Bord von Naturgewalten gefangenen Zuggäste, die natürlich alle extrem verdächtig sind. Eine besonders eindringliche Rolle spielt die fantastische Ingrid Bergman, die für ihre Leistung sogar mit dem Oscar als Beste Nebendarstellerin ausgezeichnet wurde. Ihre verklemmte Missionarin mit schwedischem Akzent ist einer der eigentümlichen Höhepunkte dieses Kammerspiels. Ebenfalls großartig ist der stotternde Assistent Hector McQueen, der von Psycho-Legende Anthony Perkins verkörpert wird. Ganz zu schweigen von Sean Connery, Vanessa Redgrave, John Gielgud, Lauren Bacall, Jacqueline Bisset, Jean-Pierre Cassel und Wendy Hiller. Es ist ein Jammer, dass gleich so viele Gäste in dem Express mitfahren - denn so erhalten die einzelnen Figuren jeweils nur sehr wenig Bildschirmzeit. Handlungsstränge und Hintergründe werden nur angerissen, machen aber dadurch einen Teil der Spannung aus. Und natürlich wimmelt eine echte Agatha Christie-Kriminalgeschichte nur so von unterschiedlichen Charakteren. Das führt zu ordentlich Verwirrung und einem Haufen Verdächtiger.

Mord im Orient Express - Mrs. Hubbard und Hercule Poirot

Ein magisches Setting

Eine Harry Potter-ähnliche Magie strahlt das altehrwürdige Gefährt aus, das die Reisegruppe von Istanbul nach England bringen soll. Von außen ist es ein schnaufendes Metallmonster, dem einige eindrucksvolle Kameraeinstellungen gewidmet werden. Von innen zeigt sich seine luxuriöse Pracht. Der Speisewagen ist aufwendig dekoriert, die Sitze sind mit Leder bezogen. Kontrastiert wird der großzügige Speisewaggon mit der Enge der Gänge und der Kabinen. Gerade die Enge symbolisiert die Situation aller Reisenden: Sie können der unangenehmen Situation, in der sich alle an Bord befinden, nicht entfliehen. Das Schneegestöber hat sie eingekesselt und allen ist klar: Der Mörder muss an Bord sein. Viele Blicke werden in diesem Film geworfen: geheimnisvolle, schelmische, ängstliche. Es liegt etwas im Argen und das ist in jeder Einstellung spürbar.

Mord im Orient Express - Obduktion der Leiche

Wie klingt eine Eisenbahn?

Unterstrichen wird die spannende Geschichte von der hervorragend komponierten Filmmusik von Richard Rodney Bennett, der später die Filmmusik zu Vier Hochzeiten und ein Todesfall schreiben sollte. Sein Score von Mord im Orient Express greift das Thema der Eisenbahn auf. Eine lange Einstellung ist nur dem Gefährt gewidmet, das zunächst bedrohlich in Szene gesetzt wird, um dann bei der Abfahrt ganz plötzlich ins Gegenteil umzuschwenken. Die Sequenz ist trotz ihrer Länge sehr spannend. Sie ist ein gutes Beispiel für eine gelungene Inszenierung, in der Bild und Ton ineinandergreifen:

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Unübertroffen ist das schicksalshafte Hauptthema von Mord im Orient Express. Dramatische Streicher und ein dominantes Piano machen den Score aus. Es gibt neben jazziger Loungemusik walzerähnliche Elemente sowie düstere Passagen. Seine zwei Hauptmotive sind ohrwurmverdächtig und für mich untrennbar mit dem Film verbunden.

Hier könnt ihr euch eine Orchester-Aufführung seiner Komposition anhören:

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Die Kunst der Inszenierung

Kern des Filmgenusses ist die absolut gelungene Inszenierung. Ein Film mit nur einem Setting und wenigen Flashbacks könnte schnell langweilig werden. Stattdessen bekommen wir eigentlich ausschließlich Verhöre präsentiert. Doch diese sind so spannend in Szene gesetzt und großartig gespielt, dass ich gar nicht mehr visuellen Input brauche. Das Puzzlespiel à la Agatha Christie fordert volle Konzentration, denn jedes Detail könnte von Relevanz sein - oder der Ablenkung dienen. Doch darüber lassen uns Regisseur Lumet und die Figur des Poirot vorsätzlich im Ungewissen.

Mord im Orient Express - Auflösung des Mordfalls

Die Kunst des Mordes

Licht ins Dunkel bringt dann die Auflösung, die für Poirot-Krimis so essentiell sind wie Tee es für Engländer ist. Auf diese Szene habe ich mich immer am meisten gefreut: Wenn alle zusammen kommen, den Worten des großen Poirot lauschen und gebannt auf die Auflösung des Falls warten. Am Ende stand mir meistens der Mund komplett offen. In diesem Fall vielleicht noch weiter als sonst. Achtung, Spoiler zu Mord im Orient Express: Nicht eine Person war der Mörder. Nicht zwei. Sondern die gesamte Reisegruppe. Die geheimnisvolle, gemeinsame Vergangenheit brachte sie alle zusammen, um das durchzuführen, was schon lange fällig war. Und ich konnte sie alle gut verstehen: Diese Person hatte es nicht anders verdient. Spoiler Ende. Ein wahnsinnig tolles Ende, bei dem ich sehr glücklich bin, dass ich es vorher nicht kannte. Leider ist der Fall genauso wie der Film ein echter Klassiker geworden und daher unabhängig davon einigen Zuschauer bereits bekannt, bevor sie ihn erleben. Wenn nicht, ist jetzt ein hervorragender Zeitpunkt, um diesen Christie-Klassiker nachzuholen. Schnappt euch den Film an einem kühlen Herbsttag und genießt die abenteuerliche Reise im Orientexpress.

Wie findet ihr Mord im Orient Express?

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