Mit den Werbe-Clips zerstört Netflix seinen größten Vorteil

21.08.2018 - 18:00 UhrVor 5 Jahren aktualisiert
Das Netflix-Image bröckelt
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Das Netflix-Image bröckelt
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Netflix zahlt den Preis für seine jahrelange Großzügigkeit. Die Reaktionen auf die Werbe-Tests fielen brutal aus. Sie brechen das innige Vertrauensbündnis zu den Kunden.

Es waren zunächst nur Gerüchte, Erlebnisberichte vom letzten Bingemarathon, in einem Internet-Forum so dramatisch dargelegt wie Kriegsgeschichten. Die Versehrten erzählten von Clips zwischen zwei Serienepisoden. "Netflix testet Werbung", berichteten sie. Der Titel des ursprünglichen Reddit-Threads , wo Betroffene einander ihr Leid schilderten, sich Mut zusprachen und die Wunden leckten, ist verfasst im Ton des unwiederbringlich Traumatisierten:

Netflix forced me to watch an unskipable ad for Better Call Saul.
Netflix zwang mich, einen nicht-vorspulbaren Werbespot zu Better Call Saul anzuschauen.

Der Vorwurf in diesem Satz geht über eine distanzierte Service-Kritik hinaus. Mit der "Werbung" zwischen den Episoden hat Netflix den Kern seines Kundenbündnisses berührt. Die Abonnenten reagierten hochallergisch gegen diesen Eingriff. Wundern darf sich der Streaming-Dienst darüber eigentlich nicht. Die Reaktionen auf die Clips sind die logische Folge der rücksichtslos großzügigen Kundenpolitik der letzten Jahre.

Das Netflix-Paradies kriegt Risse

Netflix hat seinen Nutzern ein Streaming-Schlaraffenland errichtet. Statt Milch und Honig fließen hier aus nie versiegenden Quellen Serienstaffeln in den Flüssen und Netflix-Filme fallen vom Himmel. Es gibt wenig, über das der Nutzer sich beklagen könnte, und wenn doch, ließe sich dem Vorwurf mit einem Verweis auf den Preis von Netflix, der noch immer sehr gering ist, der Wind aus den Segeln nehmen. Netflix verhätschelt seine Kundschaft und die zahlt es ihm mit blinder Treue zurück. Für Streaming ist Netflix das, was Tempo für Taschentücher ist oder Nutella für Schokoaufstrich: Eine Marke als Synonym für ein Produkt, in diesem Fall einen Service. Um das Image von Netflix könnte es zumindest bei den deutschen Kunden nicht besser stehen. Was also ist am Wochenende passiert? Wie konnte Netflix diese Wut auf sich ziehen, diese ehrlich gekränkten Reaktionen?

Die Clips zersprengen die Netflix-Ur-Erfahrung

Die Beziehung zwischen Netflix und seinen Abonnenten ist persönlicher als die zwischen zum Beispiel Amazon und seinen Zufallsstreamern. Bei Amazon gibt es die Clips zwischen zwei Episoden schon länger - ohne Aufschrei. Die Aufregung unter den Netflix-Kunden ist jetzt verständlich insofern, als dass die Zwischenclips die Ur-Werte von Netflix angreifen und damit auch die Beziehung zwischen Netflix und Netflix-Abonnent.

Stranger Things

Clips zwischen den Episoden zerrütten das hypnotische Eintauchen in den Bingemarathon. Wo Netflix den lückenlosen Seriengenuss erst als Konsumform etablierte und Nutzer ihn zur Serien-Folklore erklärten, zerreißt der Dienst selber nun die feinen, fast vergessenen Nähte zwischen den Episoden. Der Binger wird grob nach einer Folge aus seinem Schlaf gerissen, wo er doch eigentlich möglichst weit in eine Serientraumwelt davondriften wollte.

Nun stellt sich die Frage: Hat Netflix mit den extremen Reaktionen kalkuliert oder betrachtete es die Clips zwischen den Episoden lediglich als Upgrade zur ohnehin schon penetranten Auto-Play-Kultur auf der Plattform. Oder anders: Wie gut kennt Netflix die Kunden, die es sich herangezogen hat, die Geister, die gerufen und geformt wurden?

Netflix reagierte auf die Reaktionen etwas verschreckt. Es bestätigte die Meldungen mit besänftigender Demut und aalglatter Beschwichtigungsrhetorik. Der Kunde ist noch immer König, die getroffenen Maßnahmen dienten lediglich Optimierung des ja ohnehin, mit Verlaub, megageilen Streaming-Erlebnisses. Diese handfeste, breitflächige Kundenkritik ist dem Unternehmen neu. Die größten Kämpfe hatte Netflix mit dem Feuilleton auszutragen, mit dem Filmfestival Cannes, der Kritik an Tote Mädchen lügen nicht und zuletzt mit der Ausstrahlung von Insatiable. Der Dienst in seiner Funktion und Ablieferpotenz blieb davon unangetastet.

Erst durch die konsequente Verwöhnung des Kunden konnte Netflix so groß werden

Netflix hat seine Kunden mit einem Streaming-Paradies das alte Fernsehen madig gemacht, seinen Kunden endgültig entwöhnt. Nun streamen die Abonnenten in spätrömischer Dekadenz. Die, die sich jetzt am lautesten beschweren, sind jene, die in Netflix nichts weniger als das gelobte Land des Fernsehvergnügens sahen. Von ihnen kommen die Schmerzensschreie der Verwöhnten. Netflix war über Jahre hinweg viel zu gut zu seinen Kunden. Nur so konnte der Stamm wachsen und diese monströse Größe erreichen, die inzwischen die Konkurrenz zurückschrecken oder todesmutig nacheifern lässt - was eigentlich nur im Abgrund enden kann.

Disenchantment

Mit der Großzügigkeit, die sich andere Dienste nicht entfernt leisten konnten, hat Netflix viel Vertrauen und Kredit bei seinen Kunden angehäuft. Netflix hat die Streaming-Utopie erschaffen. Aber kann es sie auch halten? Wir dürfen schon mal fragen, wie lange Netflix das alles noch durchhalten will. Die wahnsinnigen Investitionen in neue Inhalte. Die Kredite. Die ergebene Schmiegung des Geschäftsmodells am Kundengusto. So wurden fast alle Konkurrenten vom Markt gedrängt und eine ganze Branche in ihrem Innersten herausgefordert und teilweise bereits umgekrempelt.

Noch ist es keine Werbung

Das dürfen wir bei aller Aufregung aber nicht vergessen: Noch sind es nur Promo-Clips in eigener Sache, noch sind es nur Tests, die lediglich in den USA stattfinden. Dass wir jemals den Persil-Fuchs zwischen zwei BoJack Horseman-Episoden die schlaue Art zu waschen anpreisen sehen werden, ist schwer vorstellbar. Aber natürlich muss Netflix sich Strategien überlegen, aus bestehenden Kunden auch Wachstum zu schlagen. Wachstum generiert Netflix derzeit noch vor allem über Ausbreitung, die Erstreckung in entlegene Flecken der Erde wie Dänemark. Und es gibt ja Präzedenzfälle. Der Pay-TV-Sender Premiere lockte seine Kunden einst mit einem werbefreien Fernseherlebnis. Bei Pay-TV-Sendern wie Sky sind mittlerweile auch längere Blöcke normal.

Bis dahin ist es noch ein weiter Weg und wahrscheinlich geht ihn Netflix auch nicht. Netflix hat womöglich ein viel größeres Problem. Die Tests zeigen, dass Netflix seine eigene anspruchsvolle und deshalb überaus fragile Kundschaft, die es sich herangezogen hat, nicht versteht. Nur eine Erkenntnis hat immerhin auch dieser verunglückte Test gebracht: Netflix weiß jetzt, wie empfindlich seine Kunden-Prinzessinnen auf die Erbse unter dem Matratzenstapel reagieren.

Was sagt ihr dazu, dass Netflix Werbung testet?

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