Die erste Videothek der Welt eröffnete ein Deutscher, so will es einerseits die Legende und steht es andererseits im Guinness-Buch der Rekorde. 1975 soll Eckhard Baum , genannt Ecki, den Amerikanern damit zwei Jahre voraus gewesen sein. Im Kasseler "Video Film-Shop" verlieh er zunächst TV-Mitschnitte – nicht wissend, dass er eine Urheberrechtsverletzung beging – und bot Kunden kurz darauf die ersten originalen VHS-Filme an, die es auf dem Markt zu kaufen gab. Eckis Laden ist eine Institution. Jeden Formatswechsel und Umbruch hat er mitgemacht, Trends sah er kommen und gehen wie sonst vielleicht kein anderer Videothekenbetreiber. Heute kämpft der 78-jährige gegen die legale und illegale Internet-Konkurrenz, gegen den größten Kundenschwund seit Bestehen der Branche. Das einst florierende Geschäft mit ausleihbaren Filmdatenträgern war einmal. Vom Höhepunkt zu Beginn der 1990er Jahre, als Millionen Ostdeutsche auf einmal versäumte Filmgeschichte daheim nachholen wollten, schwärmen allenfalls Nostalgiker. Damals zählte der Interessenverband IDV hierzulande über 9000 Videotheken, mittlerweile gibt es bundesweit keine 1000 Geschäfte mehr. Was mit Piraterie begann, geht unter anderem an Piraterie zugrunde.
Raubkopierer und Wettstreiter wussten Videotheken stets zu verkraften, Video-on-Demand aber ist eine andere Hausnummer. Kaum ein Monat vergeht ohne Meldungen über große und mittlere Städte wie Braunschweig oder Oranienburg, deren letzte Videotheken ihre Pforten schließen. Ganze Bundesländer drohen videothekenfrei zu werden, in Mecklenburg-Vorpommern gibt es derzeit kein Dutzend Geschäfte mehr (Rostock , die einwohnerstärkste Stadt des Landes, verabschiedete sich Anfang des Jahres von seiner letzten nicht im Randgebiet gelegenen Videothek). Mit einem Hilferuf appellieren die Mitarbeiter der Kölner Traumathek derzeit an Kunden, ihren vor dem Aus stehenden Laden zu retten. "Kein Streamingservice und illegaler Download können die soziale, kulturelle und sinnliche Erfahrung eines Videothekenbesuches (mit Café) ersetzen", heißt es darin. Einstmals wirtschaftlich entscheidende Unterschiede zwischen cinephil geführten Programmvideotheken und großen Ketten, die den neuesten Blockbuster gleich 20 Mal neben- und untereinander aufstellten, treten in den Hintergrund. Die Videothekenlandschaft verschwindet. Und beobachten lässt sich keine Regulierung des Marktes, sondern dessen Auslöschung.
Alles hat seine Zeit, mag die Stimme des Fortschritts flüstern, im Glauben an einen Paradigmenwechsel aus guten Gründen. Andere Bedingungen schließlich führen zu anderen Bedürfnissen, keine Weiterentwicklung kommt ohne nötige Opfergaben aus. Ja, das stationäre Leihgeschäft ist ein Beinahe-Relikt, in dessen letzten Atemzügen sich möglicherweise nur analogue natives noch zu Schwärmereien über das Vergangene hinreißen lassen. Menschen etwa, für die Videotheken bedeutende Wegmarken ihrer filmischen Sozialisation waren: Ein großes Staunen vor nicht enden wollenden Regalen, eine Verheißung an die nächste gereiht, eine Hülle schöner, bunter, durchgedrehter als die andere. Solche Menschen lungerten schon in Videotheken, als diese ihnen noch gar keinen Zutritt hätten gewähren dürfen. Sie belasteten die elterliche Kundenkarte mit allem, was ihnen offiziell zur Verfügung stand und mit einiger Überzeugungsarbeit auch inoffiziell über den Tresen gereicht wurde. Sie schummelten sich in die sagenumwobene Abteilung der bösen Filme frei ab 18, um daheim eine Gelegenheit zu erwischen, sie in den Player zu werfen. Und begannen irgendwann damit, weitere Videotheken im nahen und gar nicht mehr so nahen Umkreis abzugrasen.
Über diese gewiss verklärte Anmut des Heimlichen, den von Anstrengung und Einfallsreichtum, Nervenkitzel und Stolz geprägten Ereignisraum Videothek also, können Jugendliche heute zurecht lachen – frühe filmische Prägung per Mausklick kennt derlei Barrieren glücklicher- und ganz vielleicht nur bedauerlicherweise nicht. Das Internet, ob im Video-on-Demand-Store oder auf Filmbeschaffungsseiten der weniger legalen Art, hat auch Erwachsene mit einstigen Videothekenleiden versöhnt: Kein lästiges Aufsuchenmüssen des nicht immer um die Ecke gelegenen nächsten Ladens, keine Unzufriedenheit über vergriffene Titel oder Abspielprobleme mit unsorgsam gehandhabten Scheiben (das Nachfolgeproblem der VHS, die stets auch überraschende Sensationen jenseits des Filmvergnügens durch Schlieren, Laufstreifen und Bandsalat versprach). Virtuelle Videotheken sind praktischer als das klassische Verleihgeschäft, bequemer sowieso. Niemals mehr wird ein Mensch dort die Rückgabe eines Titels vergessen, sich mit Strafgebühren oder anderweitig kostspieligen Versäumnissen herumärgern müssen. Dem abrufbereiten und datenträgerunabhängigen Filmeschauen gehört die Zukunft wie faktisch schon ein Großteil der Gegenwart. Die Innovation hat sich durchgesetzt.
Dass deshalb eine ganze Branche verdient in die Knie gezwungen wird, lässt sich aber gerade nicht behaupten. Bei allen Vorteilen und Annehmlichkeiten, die das virtuelle gegenüber dem stationären Verleihgeschäft bieten mag, haben klassische Videotheken weiterhin Berechtigung. Das beginnt schon mit dem Sortiment: Auf welchen deutschen Video-on-Demand-Plattformen lassen sich dauerhaft bzw. überhaupt Filme von Alexander Kluge, Preston Sturges oder Antonio Pietrangeli sehen? Wo bildet die kümmerliche Kanonklassiker-Auswahl von Netflix annähernd Kinogeschichte ab? Wie sollen kommerzielle Streaming-Dienste mit ihren nach dem Rotationsprinzip eingespeisten Katalogtiteln eine Alternative zu gut sortierten Videotheken sein? Im Berliner Videodrom können Kunden auf ein Archiv von 32.000 Filmen zugreifen, die Filmgalerie präsentiert 25.000 Titel und die in eine ungewisse Zukunft blickende Traumathek immerhin noch 15.000 – über existenzbedrohende Konkurrenz durch bedeutend mickriger sortierte Streaming-Anbieter dürfte es eigentlich keine ernsthafte Diskussion geben. Trotz räumlicher Beschränkungen ist selbst das Programm mancher Dorfvideothek vielfältiger zusammengestellt als das von Amazon oder Maxdome.
Diese Einwände sind nicht als Argumente gegen Video-on-Demand zu
verstehen. Wenn landauf, landab Videotheken verschwinden, bedeutet das
unter den momentanen Bedingungen schlicht eine Verengung des Angebots –
ganz zu schweigen von der damit einhergehenden filmhistorischen
Unsichtbarmachung. Es bringt wenig, die Modelle gegeneinander
auszuspielen, das eine im Zuge des anderen für hinfällig zu erklären.
Streaming kann als Ergänzung zum herkömmlichen Leihgeschäft komfortabel,
aber kein vollständiger Ersatz sein. Das ist auch eine Frage
von Privilegien: Wem der Zugang zu Streaming-Diensten aus welchen
Gründen auch immer verwehrt bleibt (finanzielle Einschränkungen,
mangelnde Verfügbarkeit schneller Internetleitungen, fehlendes
Equipment), wird im Zuge des Videothekensterbens von filmkulturellen
Quellen abgeschnitten. Da scheint es beinahe unwichtig, dass aktuelle
Blockbuster in vielen Videotheken schon für 1 Euro Leihgebühr pro Tag
angeboten werden, während die meisten Streaming-Dienste mindestens 5
Euro verlangen.
Entscheidender ist etwas anderes. Dem oft eher kuriose Ergebnisse produzierenden Geschmacksalgorithmus von Streaming-Diensten setzen engagierte Videotheken (das sind, ganz pauschal, die verbliebenen wohl mehrheitlich) persönliche Beratung entgegen. Empfehlungen oder auch Warnungen von kompetenten Betreibern ermöglichen eine Form des Kundenkontakts, die Video-on-Demand-Anbieter lediglich zu imitieren versuchen – als Suggestion einer sozialen Dienstleistung. Wo der digitale Klick im Online-Shop scheinbar individuelle Vorauswahlen trifft, kann der "analoge" Gang zum Videoladen den Blick auf tatsächliche Interessenfelder lenken (man wird, wie ein ehemaliger Augsburger Videothekenbetreiber treffend anmerkt, Teil einer "Diskursöffentlichkeit"). Das hat nicht nur mit simplen oder weniger simplen Fragen nach bestimmten Titeln und Themen zu tun, auf die ein Videothekar fachkundige Antworten findet. Es geht um Wissen und Kenntnisreichtum, um eine spezifische Auseinandersetzung mit Film selbst. Kein elektronisches Empfehlungssystem hätte es mit den anregenden Kundengesprächen aufnehmen können, die Carl Andersen in der vor zwei Jahren geschlossenen Videothek Negativeland führte.
Der überwiegend menschenleere Weltuntergangsfilm I Am Legend enthält zwei dahingehend bemerkenswerte Szenen. Die von Will Smith
gespielte Hauptfigur besucht eine Videothek von nunmehr musealer
Anmutung, in der aufgestellte Schaufensterpuppen vergangene
Alltäglichkeit vortäuschen sollen. Zunächst erinnert der amüsante Flirt
zwischen Smith und einem Mannequin an Filme, die Videotheken als
romantische Begegnungsstätten und Orte des Begehrens ins Bild setzen,
etwa Liebe braucht keine Ferien, 500 Days of Summer oder nahezu alle Regiearbeiten von Kevin Smith. In der zweiten Szene allerdings verkehrt sich das Spielerische zum Albtraumhaften .
Nachdem die Figur ihren einzigen Halt verloren hat, geht sie noch
einmal in den Laden und bricht in Tränen aus, weil das leblose Mannequin
ihr keine Regung entgegenbringen will. Noch scheinen gespenstisch
verlassene Videotheken im Kino eine auf sichere Distanz gebrachte
dystopische Angelegenheit, begreifen allenfalls verstörende Momente wie
dieser ihr Ausgestorbensein auch als sozialen Verlust. Hoffen wir, dass
es dabei bleibt.