1. Einleitung
In seinem Film „Videodrome“ aus dem Jahr 1983 thematisierte der kanadische Regisseur David Cronenberg den Einfluss der Gewaltdarstellung in den Medien auf den Menschen und das Verhältnis zwischen Mensch und Medien generell. In Verbindung mit mitunter drastischen Gewalteinlagen reflektierte der Film den gesellschaftlichen Diskurs darüber. Die allgegenwärtige Präsenz der Medien (vor allem des Fernsehens) und ihr Eindringen in sämtliche Lebensbereiche können allerdings als übergeordnetes Thema angesehen werden. Gleichzeitig nahm sich der Regisseur auch einem seiner Lieblingsthemen an: der Verschmelzung des menschlichen Körpers mit unbelebten Materialien, Werkzeugen oder gar anderen Lebewesen, seiner Mutation und Transformation. Mit der Geschichte des TV-Produzenten Max Renn, der auf der Suche nach immer extremeren visuellen Darstellungen auf ein Programm stößt, dessen Konsum bei ihm immer surrealere Halluzinationen hervorruft und ihn schließlich zur willenlosen Marionette einer Verschwörung und zum gewissenlosen Mörder macht, nahm Cronenberg Bezug auf den Vorwurf der Gewaltverherrlichung und Manipulation seiner Zuschauer, der vielen Filmen aus dem Horror- und Actiongenre gemacht wurde, ironisierte ihn dabei zugleich aber auch.
Im Folgenden soll nun herausgearbeitet werden, wie sich die gezeigte Gewalt im Film äußert, wie sich der Film dazu positioniert, wie die Rolle der Medien herausgearbeitet wurde und wie sich das alles letztendlich in seiner Rezeptionsgeschichte niederschlug.
2. Analyse
2.1 Historischer Hintergrund
Das Fernsehen war zu Beginn der 80er Jahre bereits ein etabliertes Medium, das nahezu alle Haushalte in den Industriestaaten erreichte.
Das Medium, welches in den 80ern seine Blütezeit erlebte, war jedoch das Video. Die Videotechnik als solche, also die „Aufzeichnung audiovisueller Informationen auf Magnetband“ existierte zwar bereits seit den 30er Jahren, das erste allgemein erhältliche, in Serie hergestellte „Videogerät“ erschien aber erst 1975 auf dem Markt . Anfangs herrschte ein Konkurrenzkampf zwischen mehreren verschiedenen Formaten, mit der Durchsetzung des VHS-Systems ab etwa 1984 begann dann jedoch ein „sprunghafter Anstieg von Video-Abspiel- und -Aufnahmegeräten“.
Einer der einträglichsten Absatzmärkte des VHS-Anbieters JVC stellte dabei die Pornoindustrie dar. Der erste pornographische Film im Videobetrieb erschien auf VHS, in Videotheken wurden bald ausschließlich pornographische Filme auf VHS angeboten, was zu einem „dramatischen Niedergang der Pornokinos“ führte, „die einen erheblichen Anteil am filmindustriellen Umsatz stellten“. Das Video war, in gewisser Weise, eine „heimliche Verlängerung der Tendenz des Fernsehens zu immer intimeren Darstellungen“. Durch die freie Verfügbarkeit immer zeigefreudigerer Hardcore-Filme und auch immer gewalttätigerer Horror- und Actionfilme, die mit dem nicht abreißenden Absatz der Videorekorder einherging, wurde jedoch auch eine Gewaltdebatte angestoßen.
Wobei Regisseur David Cronenberg schon viel früher mit Vorwürfen zu kämpfen hatte, seine Filme wären gewaltverherrlichend oder pornographisch. Sein Film „Shivers“ (1975, in Deutschland auch erschienen unter dem Titel „Der Parasiten-Mörder“) wurde in Kanada von der Kritik verrissen, auch, weil er durch Filmfonds der kanadischen Regierung mitfinanziert worden war, ebenso wie die Nachfolgewerke „Rabid - Bete, dass es nicht Dir passiert“ (1977, in Deutschland auch erschienen als „Der brüllende Tod“), „Die Brut“
(1979) und „Scanners - Ihre Gedanken können töten“ (1981). Diese frühen, eher billig produzierten Horrorfilme standen dem „Exploitation-Kino“ recht nahe und wurden, besonders von der britischen Presse, nicht gerade wohlwollend betrachtet. Eine Rezension zu „Scanners“, welcher durch eine realistisch wirkende Sequenz mit der Darstellung eines platzenden Kopfes berühmt wurde, titelte gar „Off With His Head!“, was sich wohl eher auf den Regisseur bezog.
Mit „Videodrome“ wollte Cronenberg, wie er selbst sagte, diesen Vorwürfen begegnen und „zeigen, daß ein Mann, der gewalttätigen Bildern ausgesetzt ist, zu halluzinieren beginnen kann. Ich wollte zeigen, wie es ist, wenn sich das, was die Zensoren sagen, tatsächlich ereignet“. Dass diese Aussage nicht ganz ernst gemeint war, erschloss sich allerdings nicht jedem. In einem späteren Interview meinte Cronenberg auch, dass Zensoren „dazu neigten, das zu tun, was sonst nur psychotische Menschen tun; sie verwechselten die Wirklichkeit mit der Illusion“. „Videodrome“ ist daher eher als eine überspitzte Auseinandersetzung mit der Wirkung von Medien und Filmzensur zu betrachten.
2.2 Gewalträume
Als Gewalträume sind im Film dementsprechend Realität und Illusion zu betrachten, die zumindest anfangs noch klar voneinander getrennt sind, sich später jedoch immer stärker überschneiden, bis kaum noch eine Unterscheidung feststellbar ist.
Die Medien stellen im Film eine Form der Illusion dar und werden auf verschiedene Weise in die Handlung mit einbezogen und reflektiert.
Hauptfigur Max Renn ist einer der drei Betreiber des Fernsehkanals 83, genannt „Civic TV“, welcher mit dem Slogan „The One You Take To Bed With You“ wirbt, der im karikaturistisch wirkenden Logo des Senders quasi bebildert wird. Seinen Zuschauern bietet er, wie eine Talkshowmoderatorin bei einem Interview mit ihm äußert, „everything from soft-core pornography to hard-core violence“. Max meint dazu, dass er einen kleinen Sender führt, der, um sich auf dem Markt zu behaupten, seinen Zuschauern Dinge zeigt, die sie „sonst nirgends zu sehen bekommen“ und ihnen zudem „ein harmloses Ventil“ biete, ihre „sexuellen Wünsche und Frustrationen“ auszuleben.
Anfangs wirkt diese Äußerung eher wie ein bloßer Vorwand, eine einfache Rechtfertigung , erscheint im weiteren Verlauf aber zunehmend nachvollziehbarer. Ob Max' von ihm veröffentlichte Produkte wirklich nur niederste Bedürfnisse bedienen und aufgrund dessen schädlich wären, wirkt fraglich, zumal die vordergründig biederen, gesellschaftlich etablierten Medien im Film als nicht wirklich vorbildlicher dargestellt werden. Als Max die Radiomoderatorin Nicki Brand, welche in der Show mit ihm interviewt wurde, bei der Arbeit besucht, befindet sich diese gerade in einem Gespräch mit einer offensichtlich psychisch angeschlagenen, schwer depressiven Frau. Nickis „Emotional Rescue Show“ wirkt genauso voyeuristisch wie einer der Erotiksender, nur dass sich ihre Konsumenten an den, wohlgemerkt echten, seelischen Schmerzen anderer Personen ergötzen.
Der Film stellt somit auch die Frage, ob „der sogenannte gute Geschmack, dem sich die Giganten der Medienbranche verschrieben haben, nicht ein Diktat der Mittelmäßigkeit darstellt? Oder gar eine Form gewaltverherrlichender Pornografie, die durch die Unehrlichkeit bürgerlicher Verdrängungsmechanismen weitaus schwer-wiegendere Konsequenzen haben kann als Max Renns dubiose Produkte?"
Dass Gewalt und Erotik längst in das Leben der Menschen (also die Realität) eingedrungen sind, und die Gesellschaft dem gegenüber immer weiter abstumpft, ist offensichtlich eine weitere Aussage des Films. So ist in einer Szene zu Beginn, als Max zwei japanische Geschäftsmänner, die ihm ihr Produkt anbieten wollen, in einem Hotelzimmer trifft, in einem benachbarten Zimmer gerade ein heftiger Streit im Gange. Ein Ehemann hämmert immer wieder lautstark gegen die Tür des Zimmers und droht seiner Frau, er trete die Tür ein, wenn sie ihm nicht sofort öffne. Niemand im Hotelgang nimmt davon Notiz, geschweige denn, dass jemand versuchen würde, einzugreifen. In einer anderen Szene, in der sich Max in einem Restaurant zu einem Gespräch mit einer befreundeten Pornoproduzentin trifft, wird die Kundschaft durch den aufreizenden Tanz einer Bauchtänzerin unterhalten. Gewalt und Sexualität bestimmen also anscheinend bereits das angeblich „zivilisierte“ Leben, weshalb es als bigott erscheint, wenn Max in der Talkshow gefragt wird, ob der Konsum seines Senders zu „Gewalttätigkeit und sexueller Verwirrung“ führen könne, da die Probleme offensichtlich woanders ihre Ursprünge haben. Die bürgerliche Doppelmoral kommt hier eindeutig zum Vorschein.
Die titelgebende Show „Videodrome“ nun, auf die Max durch seinen Techniker Harlan, der im Geheimen für ihn als Raubkopierer arbeitet, stößt, übertrifft alles, was sein Sender bisher ausgestrahlt hatte. Die einzige Handlung der einzelnen Episoden besteht nur aus der Folterung und Ermordung von Menschen. Max ist angetan vom Realismus der angeblichen Show und meint, dass sie die „Zukunft des Fernsehens“ darstelle. Seine, durchaus begründete, Rechtfertigung lautet auch hier „better on TV than on the streets“. Es handelt sich hierbei ja nach wie vor um eine Illusion - oder scheint es zumindest zu sein.
Doch diese Illusion drängt sich nach und nach immer weiter in Max' privates Leben. Er leidet immer häufiger unter Halluzinationen, in denen er sich selbst in der „Videodrome“-Show wiederfindet und kann immer weniger unterscheiden, was sich davon in der Realität und was sich nur in seiner Einbildung abspielt. Sind diese surrealen Sequenzen des Films anfangs eher kurz und treten nur vereinzelt auf, kommt es im weiteren Verlauf zu „Visionen, die immer länger andauern und schließlich kaum noch von ‚normalen‘ Wahrnehmungen unterbrochen werden“ und dazu auch immer groteskere Formen annehmen. Zwei Räume vermischen sich hier also.
Diese Desorientierung des Hauptcharakters überträgt sich auch auf den Zuschauer. Die komplette Handlung des Films, mit allen verschiedenen Realitätsebenen, wird aus der Perspektive des Protagonisten gezeigt. Damit ist nicht gemeint, dass er mit einer subjektiven Kamera gedreht wurde, sondern dass man den Hauptcharakter während des Filmes auch sieht, er allerdings die einzige Bezugsperson des Zuschauers darstellt. Man sieht ihn in jeder Szene. Cronenberg selbst nannte „Videodrome“ daher auch einen „First-Person-Movie“ - eine Objektivität wird suggeriert, tatsächlich weiß man als Zuschauer aber nur genau so viel wie der Protagonist.
Die Desorientierung des Zuschauers wird bereits mit der ersten Halluzination eingeleitet. Diese Szene stellt sozusagen den „Wendepunkt“ des Filmes dar: Als Max und Nicki Brand zum ersten Mal Geschlechtsverkehr in seiner Wohnung haben, sieht man die beiden eng umschlungen auf einer Decke liegen, während im Hintergrund der Fernseher läuft. Zu sehen ist dort die Foltershow „Videodrome“, allerdings stumm geschaltet. Max und Nicki sind in ein rotes Licht getaucht, dessen Ursprung nicht genau ausgemacht werden kann (von Interesse ist dabei auch, dass die im Film gezeigten „Videodrome“-Folgen immer ebenfalls in einem rötlichen Licht gezeigt werden). Die Kamera fährt zunächst nah an das Geschehen heran, um die sadomasochistischen Sexspiele der beiden im nächsten Schnitt in einer Nahaufnahme zu zeigen. Dann gibt es eine Kamerafahrt zurück – und urplötzlich hat sich die Umgebung verändert. Max und Nicki liegen plötzlich auf einem schwarzen Gitterrost und befinden sich nicht mehr in Max' Wohnung, sondern dem Raum, in dem die „Videodrome“-Show stattfindet: vier Säulen an der Wand, eine Rückwand aus feuchtem Lehm, an den Seitenwänden sind Rohre, Griffe und andere Halterungen befestigt. Auch der Ton hat sich verändert: Max' und Nickis Liebesseufzer klingen nun hallend, leicht vibrierend, was jedoch nicht einem Echo ähnelt, sondern eher elektronisch verfremdet zu sein scheint. Nun gibt es einen Close-Up von Max' Gesicht, das einen überraschten Ausdruck angenommen hat und das nächste Bild zeigt seine Sicht: den „Videodrome“-Raum im Fernseher. Die Szene endet abrupt mit einem harten Schnitt zu einer Ansicht der Großstadt, in der Max arbeitet, am nächsten Tag.
Von diesem Moment an, der bei etwa 17 Minuten Laufzeit datiert, verschwindet die Unterscheidungsmöglichkeit „zwischen verschiedenen Modi einer Realität, die in Cronenbergs Film immer schon medial vermittelt ist“. Die Wirklichkeit erscheint nicht mehr zuverlässig und die Illusion dringt in diese ein. So taucht der „Videodrome“-Raum später in einer weiteren Halluzination auf, als Max eine Art Datenhelm aufsetzt, der seine Wahnvorstellungen aufzeichnen soll. Max findet den Raum also sozusagen „in seinem Bewusstsein wieder“ und durchbricht die Membran zwischen den Realitätsebenen endgültig. Die Brutalität des Mediums „Videodrome“ und der damit verbundenen Halluzinationen greift schließlich auch auf die wirkliche Welt über, wenn Max, nunmehr völlig manipuliert und kaum noch bei Verstand, zuerst seine beiden Partner in deren Büro und zum Schluss Barry Convex, den Chef des Konzerns „Spectacular Opticals“, der ihm den Auftrag dazu gegeben hatte, bei einem Kongress in aller Öffentlichkeit brutal erschießt. Die dabei ins Groteske gehende, überzeichnete Gewalt weist jedoch wieder auf die Ironie hin, mit der das Gezeigte zu betrachten ist. In der Schlussszene flieht Max auf ein verlassenes Schiffswrack im Hafen, zieht sich in dessen Bauch zurück und trifft dort in seiner Einbildung wieder auf Nicki Brand, die in Form einer Fernsehübertragung zu ihm spricht. Er hat sich nun von allen abgekapselt; das Medium Fernsehen ist seine Realität geworden. Nachdem er im Fernsehen eine Übertragung seines eigenen Suizids sieht, richtet er sich schließlich tatsächlich selbst – als wäre er vom Medium dazu angestiftet worden. Der Simulationsraum zwischen dem passiven Betrachten eines Mediums und aktivem Handeln in diesem wurde endgültig aufgelöst.
2.3 Gewaltakteure
Hauptfigur des Films ist, wie erwähnt, der TV-Produzent Max Renn, dargestellt von James Woods. Er wird im Film als schmierig und arrogant dargestellt, „als kleiner Fisch unter Haien - rücksichtslos, geschmacklos, niveaulos und billig“. Die Nöte anderer Leute kümmern ihn nicht sonderlich. In der Szene zu Beginn, in der er die beiden japanischen Geschäftsmänner trifft, ignoriert er beispielsweise nicht nur den Streit des benachbarten Ehepaars, sondern stibitzt auch noch unauffällig etwas aus dem Wagen der vorbeikommenden Putzfrau. In Gesprächen mit anderen Personen erscheint er selbstsicher und aalglatt, so tritt er bei dem erwähnten Interview in der Talkshow zu Beginn des Films sehr dominant auf und verunsichert die Moderatorin.
Vorgeblich scheint er tatsächlich lediglich aus ökonomischen Gründen nach expliziten Darstellungen von Erotik und Gewalt zu suchen - tatsächlich steckt jedoch mehr dahinter. Von dem radikalen Nihilismus „Videodromes“ ist er sofort fasziniert, im Konsumieren immer extremerer Bilder scheint er Erfüllung zu finden, weshalb er auch die von seinem Techniker erstellte Raubkopie von „Videodrome“ mit zu sich nach Hause nimmt. Die billige Pornographie, die es auf dem Markt gibt, befriedigt ihn hingegen nicht. So lehnt er die Episode „Samurai Dreams“, die er bei dem erwähnten Treffen mit den beiden japanischen Produzenten (deren Studio den provokanten Namen „Hiroshima Video“ trägt) begutachtet, als „too soft“ ab (ironischer- weise verlangte Robert Rehme, der damalige Produktionschef von Universal, von Cronenberg, dass diese Episode zensiert wurde, was sich lediglich darauf beschränkte, dass ein Dildo unkenntlich gemacht werden musste).
Während Max visuell offensichtlich vieles gewöhnt ist, und eine Vorliebe für die Darstellungen sinnlicher Exzesse hat, ist er, was die Ausübung sexueller Praktiken betrifft, selbst noch ziemlich unerfahren. In dieser Hinsicht findet er nun Erfüllung in der Beziehung zu Nicki Brand, der nach ihm wichtigsten Figur des Films. Nicki, dargestellt von Deborah Harry, der Sängerin der damals sehr populären Rockband Blondie, ist ein Charakter, der an den Rollentypus der Femme Fatale aus dem Film Noir erinnert. Ihre auffällige Kleidung, ihr selbstbewusstes, verführerisches Auftreten und die Aura der Faszination, die das Interesse des Protagonisten an ihr wecken, verweisen darauf (was im Übrigen nicht die einzige Anspielung auf dieses Filmgenre in „Videodrome“ darstellt; so erinnert auch Max in seinem Auftreten, mit seinem häufigen Zigarettenkonsum und dem breitkrempigen Mantel, den er in einigen Szenen trägt, an das Klischee des Noir-Helden). Max lernt Nicki in der erwähnten Talkshow zu Beginn des Filmes kennen, in der es um die soziale Verantwortung der Medien geht. Als sie gefragt wird, ob sie Max zustimmt, dass er einen positiven, sozialen Beitrag zur Gesellschaft leistet, meint sie, dass sie in „overstimulated times“ leben würden; alle verzehren sich nach Stimulation, sei sie nun sexueller oder anderweitiger Natur, was sie als negativ ansehe. Daraufhin wird sie von Max gefragt, weshalb sie ein auffälliges, rotes Kleid trage, das auf ihn „stimulierend“ wirke und ob sie wisse, was Freud dazu gesagt hätte. Sie gibt ihm Recht und meint scherzhaft „I live in a highly excited state of overstimulation“, worauf Max ihr vor laufenden Kameras anbietet, sie zum Abendessen einzuladen. Da das Interview der Moderatorin entgleitet, wendet sie sich an den dritten geladenen Gast, den nur über Fernsehübertragungen kommunizierenden „Medienpropheten“ Professor Brian O'Blivion. Das Gespräch zwischen Nicki und Max ist nur im Hintergrund zu hören; als sich die Moderatorin am Ende der Sendung dann wieder Nicki zuwendet und sie fragt, ob sie meine, dass Max Renn „a menace to society“ wäre, antwortet Nicki schlagfertig, dass sie das nicht wisse, „but he’s certainly a menace to me“.
Später wird immer deutlicher, dass Nickis angebliche Besorgnis über die mediale Überreizung der Gesellschaft wohl nur geheuchelt war. In ihrer eigenen Radioshow schlägt sie aus den Schicksalen anderer Menschen Kapital und privat ist sie selbst eine eifrige Konsumentin sexuell anregender Filme und dazu offensichtlich auch masochistisch veranlagt. Bei ihrem ersten Treffen mit Max in seiner Wohnung fragt sie diesen nach einem Porno, antwortet auf seine überraschte Frage, ob sie das ernst meine, dass es sie in Stimmung brächte und entdeckt beim Herumstöbern das „Videodrome“-Band. Als Max ihr erklärt, es handle sich dabei um Folter und Mord und nicht um Sex, antwortet sie „Says who?“ Als sich die beiden das Video anschauen, ist sie zu Max' Verwunderung sehr angetan davon und bittet ihn darum, sie an der Schulter mit seinem Taschenmesser zu schneiden, „just a little“. Ihm fällt auf, dass sie dort bereits Narben hat, worauf sie meint, dass das ein anderer Freund gewesen wäre, dem „Videodrome“ wohl auch gefallen würde. Sie fragt ihn, ob er „a few things“ ausprobieren würde. Nun sieht man die erwähnte erste Sexszene, bei der Max eine Nadel über Nickis Körper streicht, sie in ihr Ohrläppchen sticht, sie dann wieder herauszieht und das Blut davon ableckt, um sie schließlich in Nickis anderes Ohr zu stechen. Im Anschluss kommt es bei Max zur ersten Halluzination. Nicki ist es also, die ihn als „Femme Fatale“ zum körperlichen Ausleben seiner sexuellen Bedürfnisse verführt.
Beim zweiten Treffen der beiden offenbart sie ihm, dass sie sich für „Videodrome“
bewerben wolle. Seine Besorgnis und Warnung, dass die Macher der Show weiter gehen würden, als sie verkraften könne, tut sie ab und betrachtet letzteres sogar als Herausforderung. Anschließend verbrennt sie sich selbst mit einer Zigarette an der Brust. Max, der für sie mittlerweile Gefühle entwickelt hat, bittet sie inständig, es nicht zu tun, worauf sie jedoch nicht reagiert. Von da an tritt sie im Film nur noch in Form von Videoübertragungen und in Max' Halluzinationen auf.
So verschmilzt sie für ihn mit zwei der anderen drei Frauenfiguren des Films: Max‘ Sekretärin Bridey (dargestellt von Julie Khaner) und der Pornoproduzentin Masha (verkörpert von Lynne Gorman). Bridey ist höflich, zuvorkommend, naiv und steht loyal zu Max. In der Videoübertragung ganz zu Beginn des Films, mit der sie eingeführt wird, und die Max' Wecker darstellt, nennt sie ihn scherzhaft „Commander“.
Masha hingegen ist eine erfahrene Größe im Geschäft und lässt sich von ihm nicht beeindrucken. Ihre Filme sind ihm, wie der japanische „Samurai Dreams“, nicht zeigefreudig genug. Er bittet sie darum, Nachforschungen zu „Videodrome“ anzustellen. Bei ihrem nächsten Treffen warnt sie ihn dann davor, weil sie herausgefunden habe, dass es sich dabei um reale Gewalt, also „Snuff-Filme“ halte, was er jedoch nicht wahrhaben will (auch, weil Nicki ihm am Abend zuvor eröffnet hatte, dass sie sich dafür bewerben wolle). Um weitere Informationen zu erhalten, macht er ihr Avancen, was sie jedoch abschlägt. Letztendlich besticht er sie damit, dass er ihren Film, „Apollo und Dionysus“, ins Programm seines Senders aufnimmt. Sie nennt ihm daraufhin den Namen Brian O'Blivion.
Der Charakter des Brian O'Blivion wiederum erfüllt einen anderen wichtigen Zweck im Film. Angelehnt ist er gewissermaßen als Parodie auf den Medienwissenschaftler Marshall McLuhan, der zwei Jahre vor Veröffentlichung des Films verstarb. Der sprechende Name O'Blivion (von engl. „oblivion“: Erinnerung) ist paradox, denn er bezeichnet das, was nicht zutrifft. O'Blivion dient im Film dazu, Max auf seine Veränderung vorzubereiten und ist ein Instrument von Cronenbergs Kritik an der Wissenschaft. Der Name verweist aber wohl auch auf den „Zwischenraum“, in dem O'Blivion existiert, denn er taucht im Film nur in Form von Videoaufzeichnungen auf, oder auf die Idee des zunehmenden Gedächtnisverlusts als Folge des exzessiven Videokonsums (dazu ist anzumerken, dass auch weitere Figuren im Film sprechende Namen tragen : Renn, Brand und Convex haben selbst eine eigene Bedeutung oder verweisen auf Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften des jeweiligen Namensträgers). Die Ideen McLuhans werden im Film teils auf übertriebene Weise wörtlich genommen oder ironisch umgesetzt. So beispielsweise in der „Cathode Ray Mission“, also „Kathodenstrahlmission“, die von O'Blivions Tochter Bianca betrieben wird und in der Obdachlose, Arme und andere Außenseiter der Gesellschaft wieder in diese integriert werden sollen – absurderweise, indem sie hohem Fernsehkonsum ausgesetzt werden.
Der von Jack Creley dargestellte Brian O'Blivion führt im Film ausschweifende Monologe, in denen er seine Überzeugungen von einer Verschmelzung des menschlichen Körpers mit den Medien ausführt. In der Talkshow bezeichnet er den Fernsehbildschirm als „the retina of the mind’s eye“, also die „Netzhaut des geistigen Auges“, eine Metapher, die den Subtext des Films auf den Punkt bringt: die Medien sind bereits so weit ins Leben der Menschen eingedrungen, dass sie als eine technische Erweiterung der Sinnesorgane betrachtet werden können und den modernen Menschen in technologische Kreisläufe miteinbeziehen.
Bianca O'Blivion (dargestellt von Sonja Smits) ist die dritte wichtige Frauenfigur im Film und fungiert als Stellvertreterin ihres Vaters. Wie sich bei Max' zweitem Treffen mit ihr herausstellt, ist sie aber vielmehr dessen Nachlassverwalterin: denn Brian O'Blivion ist selbst längst nicht mehr wirklich anwesend. Er verstarb bereits Monate zuvor an einem Gehirntumor, von seiner Tochter wird er sozusagen öffentlich durch Videos am Leben erhalten, auf denen er seine Monologe aufzeichnete. Und nun wird auch offenbar, dass „Videodrome“ in Wahrheit nicht der Name einer Fernsehsendung, sondern des Signals ist, mit dem diese Sendung unterlegt wurde. Beim Betrachter führt dieses Signal zu einem Tumor, welcher wiederum die Halluzinationen verursacht; die Art der Halluzinationen wird durch die gezeigten Bilder bestimmt. Brian O'Blivion war einer der Entwickler dieses Signals und ihm selbst ausgesetzt. Seine Wahnvorstellungen ließen ihn glauben, dass sich der Tumor zu einem neuen Organ in seinem Körper entwickelt hätte und die Verwandlung des Menschen in „a technological animal“ die nächste Stufe der Evolution darstelle.
Max gerät nun zwischen die Fronten zweier gegensätzlicher Parteien: auf der einen Seite Bianca O'Blivion, auf der anderen Barry Convex (dargestellt von Leslie Carlson), den Kopf des Konzerns „Spectacular Opticals“. Auch dieser Name hat eine besondere Bedeutung: das Hauptmotiv des Films wird darin gewissermaßen versinnbildlicht. Zum Einen das „Sehen des Spektakulären“ (Spectacular), zum Anderen die optischen Instrumente, die dieses Sehen ermöglichen (Spectacles = Brille; Ocular). Brillen spielen hierbei tatsächlich eine Rolle: der Konzern produziert kostengünstige Brillen für die Dritte Welt und gleichzeitig Raketenabwehrsysteme für die NATO. Diese zwei gegensätzlichen Produktionsfelder spielen auf die Methode von Großkonzernen, die in moralisch fragwürdige Waffengeschäfte verwickelt waren, an, sich mit gemeinnützigen Geschäftszweigen öffentlich einen positiven Anstrich zu verpassen, was in den 70er Jahren zu Unternehmensskandalen führte.
Dieser Konzern nun steckt auch hinter den Foltervideos, die mit dem „Videodrome“-Signal unterlegt sind. Die Folterer die darauf zu sehen sind, sind auch die einzigen Figuren, die im Film kaum charakterisiert werden: sie treten nur vermummt auf, ihre Beweggründe werden nicht herausgearbeitet. Die Videos dienen schließlich auch nur dem Zweck, das Signal möglichst effektiv zu verbreiten, denn Gewalt stelle nun einmal die stärkste Stimulation dar. Die Folterer erledigen ihre Arbeit offensichtlich aus stumpfem Gehorsam, wobei Sadismus mit Sicherheit ebenfalls ein Motiv ist.
Wie Max' Techniker Harlan (dargestellt von Peter Dvorsky) diesem schließlich offenbart, gab es nie eine Fernsehshow namens „Videodrome“, die auf einem Piratensender ausgestrahlt und von ihm abgefangen wurde; Max bekam lediglich bereits bespielte Bänder zu sehen. Harlan, der Max immer wieder scherzhaft „Patron“ (also „Beschützer“, wohl aus dem Grund, weil Max Stillschweigen über Harlans illegale Piraterie-Aktivitäten wahrt) nennt, ist vorwitzig und erscheint, wie Bridey, loyal zu Max. Tatsächlich täuschte er ihn jedoch. Max wurde von ihm von Anfang an im Auftrag von Barry Convex manipuliert.
Letztendlich tut es auch dessen Gegnerin Bianca O'Blivion: bei ihrem ersten Treffen gibt sie ihm ein mit dem „Videodrome“-Signal unterlegtes Video von ihrem Vater, da sie annahm, Max gehöre zu „Spectacular Opticals“ und wolle sie ermorden. Als er, von Barry Convex und Harlan vollends manipuliert, das dann später auch tatsächlich tun will, zeigt sie ihm ein Video, auf dem Nickis (angebliche?) Ermordung zu sehen ist. Das allerdings nicht, um ihn zu heilen, sondern um ihn gegen seine Auftraggeber zu wenden. Sie benutzt ihn also letztlich auch nur als Instrument.
2.4 Gewaltpraktiken
Gewalt tritt im Film sowohl direkt (in Form der grotesk überzeichneten Mord- und der Folterszenen aus „Videodrome“) als auch indirekt (dargestellt in der Manipulation Max' durch die Medien) auf. Die Medien, oder genauer „Videodrome“, wirken dabei im Film wie ein Virus oder eine Droge. Max wurde quasi mit dem ersten Betrachten von „Videodrome“ infiziert, und in seinen Halluzinationen wird immer wieder sein Begehren danach, seine Sucht, offensichtlich. Gleichzeitig war dieses Begehren nach extremen visuellen und körperlichen Reizen auch der Auslöser seines Interesses an „Videodrome“ und damit seiner Infektion. Nicki Brand stellt, nach ihrem Verschwinden, die Verkörperung seines Begehrens dar.
Dies wird offensichtlich in der berühmt gewordenen Szene mit dem lebendig gewordenen Fernseher. Als er die ihm von Bianca O'Blivion zugeschickte Kassette mit dem „Videodrome“-Signal betrachtet, spricht ihr darauf zu sehender Vater plötzlich direkt zu ihm. Dann tritt einer der Folterer aus der angeblichen Show ins Bild, bindet O'Blivion an seinem Stuhl fest und stranguliert ihn (auf dieselbe Weise stirbt schließlich auch Nicki auf dem angeblichen Video ihrer Ermordung, das Max später zu sehen bekommt). Als die Person ihre Kapuze abnimmt, kommt darunter Nickis Gesicht zum Vorschein. Sie verführt ihn, indem sie immer wieder sagt: „I want you, Max! Come to me, come to Nicki. Don’t make me wait!“ Die Kamera auf dem Bildschirm fährt immer näher an ihr Gesicht heran, bis nur noch ihre begehrlich wispernden Lippen zu sehen sind. Gleichzeitig verändert sich der Klang ihrer Stimme; sie ist doppelt zu hören: auf einer Klangebene hört man ihr Atmen und Stöhnen, auf der anderen ihr Flüstern. Dann verändert sich plötzlich auch der Fernseher, der in gewisser Weise die Rolle des zu den Atem- und Stöhngeräuschen gehörigen Frauenkörpers übernimmt. Das Gehäuse und die Lautsprecherabdeckung wölben sich nach außen, heben und senken sich immer wieder. Als Max die weich gewordene Oberfläche berührt, zeichnen sich darauf menschliche Adern ab. Schließlich wölbt sich ihm auch der Bildschirm, auf dem Nickis Kussmund zu sehen ist, entgegen. Getrieben vom Verlangen drückt er seinen Kopf in diesen. Eine Art technologische Kopulation findet statt. Der Gehirntumor befriedigt sozusagen Max' Verlangen nach sexueller Erfüllung, verbunden mit seinem Wunschbild von Nicki. Seine Sucht wird dadurch nur noch verschlimmert.
In den beiden Szenen, in denen Nicki mit anderen Menschen verschmilzt, wird das ebenfalls deutlich. Der zunehmend paranoider werdende Max besorgt sich nach Mashas Warnung eine Pistole, wohl, um sich gegen die Verantwortlichen hinter „Videodrome“ zur Wehr setzen zu können. Als er sie auspackt, wird er in seiner Wohnung von Bridey überrascht, die ihm Videomaterial bringt. Sie verschmilzt für ihn mit Nicki, als sie die Pistole zu entdecken droht: er schreit sie an und schlägt sie. Plötzlich steht an ihrer Stelle Nicki vor ihm, die er erneut schlägt. Dann ist Nicki wieder verschwunden. Als sich Max bei Bridey entschuldigt, reagiert diese jedoch verwirrt und weiß von nichts.
Ein solcher Austausch von Personen wiederholt sich an einer späteren Stelle im Film: als Max bei seinem ersten Treffen mit Barry Convex, der noch vorgibt, ihm helfen zu wollen, auf dessen Drängen den Datenhelm aufsetzt und damit alleine zurückbleibt, nachdem Convex gegangen ist, taucht vor seinem Auge plötzlich Nicki auf, die er wegen den Helms nur verschwommen (eher verpixelt, wie bei einem Bildschirm mit schlechter Qualität) sehen kann. Das Bild klärt sich, er trägt den Helm auf einmal nicht mehr und findet sich zu seiner Überraschung im „Videodrome“-Raum wieder. Nicki, die ein aufreizendes rotes Kleid trägt, reicht ihm eine Peitsche. Plötzlich ist sie verschwunden, anstelle ihrer steht nun ein Fernseher im Raum, auf dessen Bildschirm die gefesselte Nicki zu sehen ist. Max peitscht den Fernseher aus, nachdem Nicki ihn dazu aufforderte. Ihre erregten Schreie sind dabei zu hören, welche wieder den eigentümlichen Klang aufweisen. Max peitscht nun immer heftiger auf den Fernseher ein, wobei die Schreie der Erregung zu Schmerzensschreien werden. Als die Kamera von Max zurückfährt, um den ganzen Raum zu zeigen, ist auf dem Bildschirm des Fernsehers plötzlich nicht mehr Nicki, sondern Masha zu sehen, die an ihrer Stelle ausgepeitscht wird. Es gibt einen harten Schnitt und der verwirrte Max findet sich im Bett seines Schlafzimmers wieder. Zu seinem Entsetzen liegt neben ihm Mashas gefesselte, geknebelte und ausgepeitschte Leiche. Er ruft Harlan zu Hilfe, welcher jedoch nichts Ungewöhnliches entdecken kann. Als Max selbst nachsieht, ist die Leiche verschwunden.
Die junge Bridey und die reife Masha werden in diesen Szenen zu entgegengesetzten Objekten von Max' Begierde; sie, die an sadomasochistischen Spielen kein Interesse haben, werden für ihn zu der Frau, die Freude daran empfindet, Schmerz zu erleiden. Nachdem Nicki verschwunden ist, wünscht er sie sich zurück. Mangels Möglichkeit, sein Verlangen zu befriedigen, macht er die anderen Frauen, die er kennt, zu Objekten seiner Begierde. Und ebenso das Medium, das diese Begierde stimuliert.
Gleichzeitig beginnt sich auch Max‘ Körper zu verändern. Beim Betrachten eines Videos von Brian O'Blivion muss er plötzlich zu seiner Verwunderung feststellen, dass ein Schlitz, der Ähnlichkeit zu einer weiblichen Vagina aufweist, in seinem Bauch klafft. Als er die Pistole probeweise hineindrückt, schließt sich der Spalt. Max zieht seine Hand heraus und der Spalt verschwindet. Die Pistole ist nun auch unauffindbar. Während für Max unbelebte Maschinen, die Medien transportieren, lebendig zu werden scheinen, verwandelt er sich gleichzeitig immer mehr in eine Maschine. Auf diese Weise wird die Manipulation durch das Medium dargestellt. Gleichzeitig wird man dabei Zeuge einer „Feminisierung“ des männlichen Körpers. Wenn sich Max die Pistole in den Vaginalschlitz schiebt, vollzieht er sozusagen eine „Autopenetration“. Er wendet sein Verlangen auch am eigenen Körper an.
In der Szene, in der Barry Convex und Harlan ihm die Wahrheit über „Videodrome“
offenbaren und ihn vollständig unter ihre Kontrolle bringen, wird beides sehr gut dargestellt: Max, der die beiden für eine Halluzination hält, will gerade gehen, da hält ihm Convex eine Videokassette hin. Ein geisterhafter Wind weht Max ins Gesicht, sein Hemd knöpft sich von selbst auf, der Schlitz in seinem Bauch beginnt zu pulsieren und mit den Worten „Open up, Max. I’ve got something I wanna play for you“ schiebt Convex die Kassette in Max' Bauchschlitz, der dabei entsetzt aufstöhnt. Mimik und Gestik der Szene wecken dabei Assoziationen an eine Vergewaltigung. Als Max die Kassette wieder herausholen will, bekommt er stattdessen die Pistole zu fassen, aus der sich spitze Kabel durch seine Finger und in sein Handgelenk bohren. In seinem Kopf hört er Convex‘ Befehl, seine Geschäftspartner zu töten, welchem er dann auch Folge leistet. Max, der „programmer“ beim Fernsehsender wurde sozusagen selbst „wie ein Videorekorder programmiert“, wie es Bianca O'Blivion dann bei seinem Versuch, sie ebenfalls zu ermorden, auf den Punkt bringt. Eine der vielen Ironien des Films.
In der erwähnten Szene wird auch Cronenbergs Gesellschafts- und Medienkritik offenbar: der mächtige Konzern, welcher sich öffentlich als gemeinnützig darstellt, verfolgt im Geheimen die Absicht, die Öffentlichkeit über die Gefährlichkeit und Unmoral der Welt außerhalb Amerikas aufzuklären. Ein kleiner, privater Fernsehsender, der Gewalt und Erotik seinen Zuschauern als Zerstreuung bietet, ist ihm dabei ein Dorn im Auge, weil er, wie es Harlan im Film ausdrückt, seine Zuschauer „innerlich verfaulen“ lasse. Um diese angebliche Unmoral zu beseitigen und den Sender für die eigenen Zwecke einzuspannen, produziert der vorgeblich moralische Großkonzern paradoxerweise die extremste Form der medialen Gewalt, Snuff-Filme, welche vom Sender ausgestrahlt werden sollen. Auf diese Weise wird die Doppelmoral und Gefährlichkeit des Konzerns offengelegt. Die Manipulation der Medien und die Darstellung gängiger Geschäftspraktiken in der Medienbranche ist in der Szene metaphorisch dargestellt zu sehen: der „kleine Fisch“ wird vom „Hai“ geschluckt, also der kleine Sender vom Konzern gewaltsam übernommen.
Die Verschmelzung von Mensch und Maschine schreitet im Film derweil immer weiter voran: als Max bei Bianca O'Blivion die Pistole herausholt, ist sie mit Haut überzogen und zu einer Art Geschwulst, einem neuen Organ seines Körpers geworden. Seine Manipulation durch Bianca wird dann im Stil eines Shootouts gezeigt. Der Bildschirm des Fernsehers, der Nickis Ermordung zeigte, zeigt nun statisches Rauschen und wölbt sich ihm dann plötzlich entgegen. Unter seiner Oberfläche wird eine Kopie von Max' Waffe in dessen Richtung gedrückt. Selbige Oberfläche verwandelt sich nun in menschliche Haut. Im Schuss-Gegenschuss-Verfahren sind beide Waffen zu sehen. Max wird dreimal vom Bildschirm in die Brust getroffen. Im nächsten Moment sind Max' Wunden aber verschwunden und der Bildschirm hat nun die Form einer menschlichen Brust angenommen, die aus drei Wunden blutet. Menschliche Körper werden zu Maschinen, Maschinen zu menschlichen Körpern. Dies zeigte sich schon an einer früheren Stelle des Films, in der die Videokassette, welche zu Max' Halluzination von Nicki führte, in seinen Händen plötzlich begann, sich zu verformen und Atemgeräusche von sich zu geben.
Bianca nennt Max nun „the videoword made flesh“, eine Abwandlung eines Zitats aus der Bibel, was suggeriert, dass für Max nun die Technik an die Stelle der Religion getreten wäre (womit Cronenberg die Technikeuphorie der Moderne kritisierte), und schickt ihn los, um Harlan und Convex zu töten. Dies geschieht nun auf sehr groteske Weise: als Max zu Harlan kommt, täuscht er diesem vor, er würde ihm noch gehorchen und hätte Bianca getötet. Harlan will ihm einen neuen Auftrag erteilen und holt eine Videokassette hervor, die selbst aus pulsierendem Fleisch zu bestehen scheint und deren Spulen sich wie zwei Brüste unter Atembewegungen heben und senken. Er will sie Max, wie Convex es tat, in den Bauch schieben. Dazu meint er, dass sie Max solange benutzen wollen, „bis er abgestorben ist“, womit wohl Max' Tod durch den Tumor gemeint ist. Erneut kommt der Wind auf und Max‘ Bauchschlitz öffnet sich. Nun verwandelt Max mit seiner Willenskraft den Spalt jedoch in eine „Vagina dentata“ und beißt mit aller Kraft zu, als Harlan die Kassette in ihn schiebt. Harlans Unterarm wird abgefräst und als Harlan ihn unter Schmerzen wieder herauszieht, hat dieser die Gestalt einer Handgranate aus dem Zweiten Weltkrieg angenommen, die Harlan in die Luft sprengt. Barry Convex wird anschließend von Max bei einem Optikerkongress öffentlich mit zwei Schüssen in die Brust und einem in die Stirn hingerichtet. Als er auf den Boden fällt, brechen die Schusswunden auf und eitrige Geschwüre wuchern hervor und zerstören seinen Körper.
Max stößt dabei den ihm von Bianca beigebrachten Schlachtruf „Death to Videodrome! Long live the new flesh!“ aus. Mit denselben Worten auf den Lippen begeht er dann, bestärkt von der ein letztes Mal über den Fernseher zu ihm sprechenden Nicki, die ihm weismacht, er würde nach dem Tod in eine neue Daseinsform übergehen, schließlich Selbstmord, wobei er die Videoübertragung seines eigenen Todes quasi nachstellt. Der Bildschirm des Fernsehers, der ihm diese im Bauch des Schiffes (in dem zahlreiche Details aus früheren Szenen, wie die Matratze, auf der er mit Nicki schlief, und eine Zigarettenschachtel, verstreut sind) direkt nach Nickis Rede zeigt, explodiert und schleudert dabei Blut und Eingeweide aus seinem Inneren heraus. Von einer „zweiten Netzhaut“, zu einem Sinnes- oder Geschlechtsorgan über Haut bis zur Körperhülle, die Innereien in sich trägt, hat der Fernseher im Verlauf des Films quasi fast „die gesamte menschliche Physiognomie zusammen mit einer Vorstellung über das Geistige nachgebildet“. Fernseher und Mensch sind untrennbar miteinander verschmolzen.
2.5 Darstellung in den Medien
Medien sind, wie bereits erwähnt, allgegenwärtig im Film „Videodrome“. Einige der Charaktere werden über Bildschirme in den Film eingeführt und zahlreiche Szenen beginnen mit der Ansicht eines Bildschirms. In der „Shootout“-Szene wird die Metapher des Bildschirms als Waffe verbildlicht. Die von Medien dominierte Welt wird hier kritisiert, allerdings auch, dass in dieser oft der Falsche für Missstände angeklagt wird. Nicht die Medien an sich sind das Übel, sondern vielmehr die menschlichen Strukturen dahinter, die ihr Publikum durch geschickten Umgang mit Informationen und Spektakel täuschen. Gleichzeitig kann der Film auch als prophetisch angesehen werden. Wenn Brian O'Blivion davon spricht, dass das nicht sein wirklicher Name, sondern sein TV-Name sei, und bald alle „special names“ tragen würden, so kann man sagen, dass damit quasi das Internet und seine sozialen Netzwerke vorweggenommen wurden.
Zur Zeit seiner Veröffentlichung war „Videodrome“ einer von Cronenbergs umstrittensten Filmen. Um das gewünschte R-Rating zu erreichen, musste schon im Vorfeld knapp eine Minute an gewalthaltigem oder erotischem Material gekürzt werden (was erst mit der Veröffentlichung auf DVD in den Film wieder eingefügt wurde). Die erste Testvorführung verlief negativ und die Kritiker waren geteilter Meinung. In Deutschland wurde der Film nach der Veröffentlichung auf Video 1985 indiziert. Im Jahre 2010 erneuerte man die Indizierung. Somit wurde er genau dort populär, wo er seine Handlung vorausgesagt hatte: auf umstrittenen Fernsehkanälen und in Erwachsenen-Abteilungen von Videotheken.
Sein Einfluss machte sich erst später bemerkbar. So waren in mehreren nachfolgenden Produktionen Inspirationen auszumachen (so bspw. in Shin'ya Tsukamotos „Tetsuo - The Iron Man“ oder der Serie „Wild Palms “) und Max Renn als Protagonist, der eine Reise ins Innere unternimmt und eine physische und/oder psychische Veränderung durchmacht, zum Prototypen für Cronenbergs Filme. Mit dem 16 Jahre später gedrehten „eXistenZ“ nahm er sich gar noch ein zweites Mal der Verschmelzung von Menschen mit Medien, in diesem Fall interaktiven, also Videospielen, an. „Videodrome“ gilt heute als wegweisender, immer noch aktueller Klassiker, zu dem 2009 ein Remake angekündigt wurde, das nach wie vor in Planung ist. Und was das Medium Video (oder genauer: VHS) betrifft, zeigt sich in seiner Geschichte eine weitere Ironie: denn der letzte darauf veröffentlichte Hollywood-Film war im Jahre 2006 „A History of Violence“, das bis dahin letzte Werk von David Cronenberg, in dem es um den Einfluss von Gewalt auf das private Leben einer Familie geht.
3. Literaturnachweise
- Stiglegger, Marcus (Hrsg.): David Cronenberg. Berlin: Bertz + Fischer GbR 2011 (= Film 16)
- Papenburg, Bettina: Das Neue Fleisch. Der groteske Körper im Kino David Cronenbergs. Bielefeld: transcript Verlag 2011
- Weber, Thomas: Medialität als Grenzerfahrung. Futurische Medien im Kino der 80er und 90er Jahre. Bielefeld: transcript Verlag 2008
- Huber, Christoph: Und Das Fleisch Ist Bild Geworden. Booklet des Mediabooks zu „Videodrome“. Koch Media GmbH 2012
- Johann, Benjamin: „Videodrome“. http://www.blairwitch.de/moviebase/495/Vi- deodrome/Kritik/
- Wieselsberger, Georg: Leb wohl, VHS! Letzte Auslieferung von VHS-Kassetten. http://www.gamestar.de/hardware/news/1952509/leb_wohl_vhs.html
- Indizierungen August 2010. Silent Hill: Homecoming auf Liste B indiziert. http://www.schnittberichte.com/news.php?ID=2251