Jahresrückblick - Die besten Filme 2018

30.12.2018 - 07:00 UhrVor 5 Jahren aktualisiert
The House That Jack Built
Concorde
The House That Jack Built
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Mit Geschichten über neurotische Serienkiller, unglücklich Liebende und Menschen an den Rändern der Gesellschaft erwies sich das totgesagte Kino auch 2018 als hochlebendig. Mr. Vincent Vega kürt die 10 besten Filme des Jahres.

In den großen Kinomomenten 2018 wurde das Publikum für voll genommen. Das ist keine Selbstverständlichkeit unter den gegenwärtigen Bedingungen der industriellen Filmproduktion, bei der sich zumindest in Hollywood die Art, wie bewegte Bilder hergestellt und konsumiert werden, stark verändert hat. Von jenen 150 im zurückliegenden Jahr veröffentlichten Filmen, die ich sah, habe ich den nachfolgenden mein Herz geschenkt.

Platz 10: The House That Jack Built

Über die Filme von Lars von Trier lässt sich unterschiedlich geistreich schmunzeln. Witz haben sie allesamt, auch seine von unmöglichster Aufopferung erzählenden Dramen. Schon Dogma 95, das ästhetische Manifest der neuen dänischen Lieblingsregisseure des Weltkinos, war im Kern ein Jokus, an dessen vorgebliche Regeln sich die Unterzeichner am allerwenigsten hielten. Dass also gerade der für seine Derbheiten zum Skandalwerk hochgejazzte The House That Jack Built eine Komödie ist, ließ sich irgendwie erahnen.

Sicherlich mag nicht jeder lachen über ein Kind, das erschossen und zur grinsenden Puppe umpräpariert wird. Matt Dillon aber, der hier als von Putzneurosen geplagter Serienkiller wieder und wieder an Tatorte zurückkehrt, auf der Suche nach möglichen Verunreinigungen, ist grandios komisch - genau wie der ständig von Bruno Ganz abgewürgte Versuch, die eigene Mordlust zu erklären. Weil der Film konstant sowohl blumige Bilder männlicher Hybris als auch die Misogynie seiner Hauptfigur hinterfragt, ist er in Lars von Triers Selbsttherapiekino vielleicht die bisher aufschlussreichste Sitzung.

The House That Jack Built

Platz 9: Sorry Angel

Sorry Angel spielt 1993, das Jahr, in dem mit Philadelphia die erste Hollywoodproduktion über Aids erschienen ist, und in dem Jane Campion bei den Filmfestspielen von Cannes als bislang einzige Frau die Goldene Palme gewann. Im Kino muss daher die Liebe beginnen, von der Christophe Honoré hier erzählt. Es läuft Das Piano, Campions Siegerfilm, und draußen geht die Angst vor einer unheilbaren Krankheit um. Ganz kurz darf der Saal ein Schutzraum sein, in dem allein Blicke zählen - das träumerische Landei verguckt sich in den HIV-positiven Zyniker aus dem ewigen Sehnsuchtsort Paris.

Mit seinen Musicals Chanson der Liebe (2007) und Die Liebenden (2011) empfahl sich Honoré als ironieresistenter Nostalgiker, dessen film- und literaturhistorisch motiviertes Formbewusstsein frei von Angeberei ist. In Sorry Angel gerinnt das ausgeprägte Sinnieren über die Kunst und das Leben erstaunlicherweise nicht zu jenem französischen Kinoklischee, dem es vermutlich sogar entspringt. So ungezwungene, schlicht wunderbare Filme können momentan nur wenige drehen.

Sorry Angel

Platz 8: Das Mädchen aus dem Norden

Kinoproduktionen über das indigene Volk der Sami, die jahrhundertelang unterdrückte ethnische Minderheit der skandinavischen Halbinsel, lassen sich an einer Hand abzählen. Von ihrer gesellschaftlichen Ächtung erzählt Regisseurin Amanda Kernell aus Sicht eines 14-jährigen Mädchens, das im Schweden der 1930er Jahre Rassifizierung und Segregation der Sami am eigenen Leib erfährt. Durch gewaltvolle Ausgrenzung und jugendliche Findungsschwierigkeiten in Selbstzweifel gestürzt, verbrennt das Mädchen seine samische Tracht und läuft davon.

Bewegender noch als diese fiktiv-biographische Rekonstruktion eines vergleichsweise wenig bekannten Kapitels europäischer Rassismusgeschichte ist die in der Gegenwart spielende Klammer des Films. Das Mädchen aus dem Norden, nunmehr 78 Jahre alt, blickt darin auf ein von verinnerlichter Diskriminierung und Herkunftsleugnung geprägtes Leben zurück. Oft werden solche Filme klein genannt und leider auch klein gehalten. Doch tatsächlich könnten sie größer kaum sein.

Das Mädchen aus dem Norden

Platz 7: Private Life

Ziemlich unterhalb des Radars lief auch diese auf Netflix veröffentlichte (und wohl deshalb kaum beachtete) Komödie über ein bildungsbürgerliches New Yorker Paar, das um buchstäblich jeden Preis ein Kind möchte. Fast alle gängigen Methoden der künstlichen Befruchtung wie auch Adoptionsversuche hat es erfolglos hinter sich gebracht, weshalb die zur Eizellspende bereite Nichte von Schwiegerseite der letzte Hoffnungsschimmer ist. Freilich birgt auch dieses Verhältnis gewisse Komplikationen, zuvorderst hochvergnügliche.

Als Geschichte über die reproduktionsmedizinischen Absurditäten und Irrwege des Kinderwunsches, über das Verhältnis von Frau und Mann im Allgemeinen, steht Private Life erstmal unter Hysterieverdacht - zu viele Drehbücher gibt es besonders im Indie-Kino, die ihre Figuren an den nächstbesten Einfall verraten. Tamara Jenkins ist jedoch nicht nur eine sehr lässige, sondern auf Augenhöhe agierende Filmemacherin. Mitsamt ihren Befremdlichkeiten fühlt sie sich in die Beziehungs- und Lebenskrise von Kathryn Hahn und Paul Giamatti ein.

Private Life

Platz 6: Nach dem Urteil

Offenbar kein wehleidiges Scheidungsdrama, sondern einen waschechten Horrorfilm hat Xavier Legrand mit dieser von Elterntrennung und Kindererziehung erzählenden Geschichte im Sinn gehabt. Um Abwägungen jedenfalls geht es bei Nach dem Urteil nicht. Er setzt die zunehmende Gewalt eines tyrannischen Vaters unmissverständlich als Folge ungleicher Machtverhältnisse in Szene. Mit einer Eskalationsdramaturgie, die trotz Vorahnungen des Unvermeidlichen nicht vorbereitet auf ihren atemlosen Schlussteil.

Erahnen lässt allenfalls der Wissensvorsprung durch jenen oscarnominierten Kurzfilm, den Legrand mit gleicher Besetzung und gleichen Figuren wenige Jahre zuvor drehte, dass die in der Luft liegende Nervosität tatsächlich etwas Grauenhaftes antizipiert: Einen Mann, der zwar von monströser Gestalt, aber doch allzu sehr Mensch ist, und zu dem selbst der weggelaufene kleine Sohn verängstigt zurückkehrt, weil es letztlich doch kein wirkliches Entkommen vom Patriarchat gibt.

Nach dem Urteil

Platz 5: Call Me by Your Name

"Regisseur Luca Guadagnino erzählt die Geschichte von zwei Menschen, die sich verlieben. Dass es sich dabei um zwei Männer handelt, wirkt völlig natürlich." - Diesen von einer deutschen Nachrichtenagentur veröffentlichten Satz, der Teil einer Mitteilung über den Kinostart von Call Me by Your Name war, haben zahlreiche Magazine verwertet bzw. abgedruckt. Hintergrund ist der womöglich nett gemeinte Versuch, ein vermutetes Randprodukt, in diesem Fall eine schwule Liebesgeschichte, soweit von sich selbst zu entkoppeln, dass seine angebliche Allgemeingültigkeit im Vordergrund steht.

Guadagninos Film aber handelt nicht zufällig von sich verliebenden Männern, genauso wie in keinem Musical zufällig gesungen wird. Es ist eigentlich fast nie egal, wann und wo ein Film spielt oder welche Menschen und Konstellationen er abbildet. Nur bei schwulem Kino, da soll plötzlich alles allgemeingültig sein. In der bemerkenswertesten Szene von Call Me by Your Name monologisiert ein Familienvater über die unausgesprochene und vor allem unerfüllte Sehnsucht nach einem nicht-normativen Begehren. Noch nie gab es einen Hollywood-Film, bei dem das Schwule so wunderschön aus allen Nähten platzt.

Call Me by Your Name

Platz 4: Ex Libris – Die Public Library von New York

Zunächst geht es Ex Libris - Die Public Library von New York um Bibliotheken als Labyrinthe des Wissens: Ein gigantischer Apparat der Informationsverwaltung, in dem Organisation unbedingt Vorrang haben muss. Verhandelt wird die New York Public Library aber zugleich als Begegnungsstätte und Diskursraum, in dem jede Organisation dem Informationsaustausch dient. In Bibliotheken, heißt es an einer Stelle, stünden Menschen im Mittelpunkt, nicht Bücher.

So lauscht der Film einerseits gebannt und zeigt andererseits gebannt Lauschende. Er thematisiert Zugangsschranken, gesellschaftliche Ungleichheit und die Anstrengungen, bibliothekarischen Vorrat sowohl zu erhalten als auch ständig zu vermitteln. Natürlich gibt es auch Besucher und -nutzer, die gehörigen Unsinn erzählen, und das sind sogar die spannendsten Passagen. Mit über 80 Jahren beobachtet Frederick Wiseman präziser als viele jüngere Kollegen. Sein Film dauert 210 Minuten und ist keine Sekunde zu lang.

Ex Libris - Die Public Library von New York

Platz 3: Roma

Der Klang von Hupen und Pfeifen in den Rücklautsprechern, die verschmutzt vor der Einfahrt liegenden Spielsachen, das zentimetergenaue Parkmanöver mit Papas Ford Galaxie - in Roma scheint es kaum eine Einstellung zu geben, die nicht aus lebhaften Erinnerungen schöpft, kein Bild, das nicht reich ist an zu erkundenden Details, und fast keinen Schnitt, der nicht auch das Trügerische dieser Erinnerungen mitdenkt. Alfonso Cuarón ordnet die beiläufige und sich gerade dadurch bemerkbar machende Virtuosität seiner früheren Filme einer Erzählhaltung unter, die großen Kompliziertheiten im scheinbar Schlichten nachspürt.

Wo also Children of Men (2006) und Gravity (2013) noch eine Verständigung auf reinen Formalismus ermöglichten, vor allem über deutlich gesetzte ästhetische Bezugspunkte, lenkt Roma den Blick auf ein spezifisches Milieu und dessen Beziehungen. Cleo, die bis zur letzten Erschöpfung fürsorgliche Haushaltshilfe einer bürgerlichen Familie im Mexiko der 1970er Jahre, ist Cuaróns bislang vertrackteste Figur. Sie steht im emotionalen Zentrum eines Films, der aller Könnerschaft zum Trotz den Menschen gehört.

Roma

Platz 2: Waldheims Walzer

In Resolutionen des UN-Menschenrechtsrats wurde Israel, die einzige Demokratie im Nahen Osten, häufiger gerügt als alle anderen Länder der Welt zusammen. Möglicherweise erklärt sich aus dieser offenkundigen Befangenheit bzw. feindseligen Prägung der Vereinten Nationen gegenüber dem einzigen jüdischen Staat jene Ungeheuerlichkeit, von der Waldheims Walzer ausschließlich unter Rückgriff auf Archivmaterial erzählt - dass nämlich Kurt Waldheim, ein Mann, der Wehrmachtsoffizier und SA-Mitglied war, zwei Amtsperioden lang unbehelligt UN-Generalsekretär sein konnte.

Während er auf Tuchfühlung mit Diktatoren und Scheichs ging, schienen an Waldheims Vergangenheit weder sein Arbeitgeber noch die Presse genauer interessiert. Ruth Beckermann rekonstruiert die erst 1986 im Zuge von Waldheims Kandidatur für die Wahl des österreichischen Bundespräsidenten gestarteten Enthüllungen und dokumentiert zugleich die mit antisemitischer Rhetorik angereicherten Versuche des Beschuldigten und seiner Gefolgschaft, sie als Schmähkampagne zu diffamieren. Gelungen ist ihr ein fassungslos machender, ungemein erhellender Film.

Waldheims Walzer

Platz 1: Der seidene Faden

Manchen geht Paul Thomas Anderson fürchterlich auf die Nerven. Sie halten ihn für wichtigtuerisch und versteift, mögen den Mut zur großen Geste nicht, das Barocke, den Kitsch, die Schrillheit. Und dass in seinen Filmen alles am rechten Platz sein müsse, sich selbst das Enervierende noch zu fügen habe. Solche und ähnliche Einwände begleiten Andersons Karriere seit 20 Jahren, den Grundstein legte vermutlich Magnolia. Obwohl ihm ein leichtfüßiges Intermezzo mit Adam Sandler folgte, wirken die Zweifel am so überwältigenden wie -fordernden Supermelodram bis heute nach.

Natürlich ist Anderson in Wahrheit ein vollkommen unprätentiöser Filmemacher. Der seidene Faden, seine bisher reflektierteste Regiearbeit, offenbart einen abgründigen Humor gerade in den offenen und bis zuletzt unverschlossen bleibenden Nähten. Am Ende dieser von Domestizierung und Selbstaufgabe erzählenden Liebesgeschichte werden Krämpfe verlagert statt gelöst. Das Ergebnis ist kein um Makellosigkeit bemühter Film, sondern lediglich ein weiteres, locker aus dem Ärmel geschütteltes Meisterwerk von Paul Thomas Anderson.

Der seidene Faden

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