Dror Zahavi über die Herausforderung Reich-Ranicki

09.04.2009 - 10:30 Uhr
Matthias Schweighöfer als Marcel Reich-Ranicki
WDR / Thomas Kost / Dirk Plamböck
Matthias Schweighöfer als Marcel Reich-Ranicki
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Regisseur spricht über die TV-Verfilmung der Autobiografie des Literaturkritikers.

Regisseur Dror Zahavi – mit Marcel Reich Ranicki – Mein Leben am Freitag Abend auf Arte zu sehen – spricht über seine Kindheit in Israel, seine Erfahrungen in Deutschland und die Herausforderungen, die die Verfilmung der Autobiografie von Marcel Reich-Ranicki an ihn stellten.

In “Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben” erzählen Sie die Lebensgeschichte einer “Medienfigur”. Hatten Sie die Befürchtung, dass das gegenwärtige öffentliche Bild Marcel Reich-Ranickis die Filmfigur überlagern könnte?
Ja, mit Sicherheit. Wir haben uns am Anfang – auch bei der Besetzung der Rollen – sehr viele Gedanken über die Herangehensweise gemacht. Eine Möglichkeit wäre gewesen, Marcel Reich-Ranicki so darzustellen, wie die Öffentlichkeit ihn kennt. Er hat ja eine ganz spezielle Aussprache. Jeder, der den Namen Reich- Ranicki hört, fängt sofort an, ihn nachzumachen. Hätte man versucht, das zu imitieren, wäre man Gefahr gelaufen, kabarettistisch zu werden. Deshalb haben wir uns für die andere Möglichkeit entschieden und das öffentliche Bild von Marcel Reich-Ranicki ignoriert. Ich glaube, man erreicht dadurch eine höhere Glaubwürdigkeit und vor allen Dingen ein größeres Identifikationspotenzial für den Zuschauer.

Haben Sie Marcel Reich-Ranicki persönlich kennengelernt?
Ich war bei ihm zuhause, mehrmals. Wir haben uns auch in Frankfurt in einem Café getroffen. Es war nicht so, dass er mir gesagt hätte, ob das Drehbuch gut ist oder nicht, was da auf jeden Fall rein muss und was nicht. Er war eine große Hilfe in seiner Grundhaltung mir gegenüber. Er hatte Vertrauen. Er ist eine Person, zu der ich gehen und zum Beispiel sagen konnte: Ich habe noch nicht das filmische Mittel gefunden, wie man Literatur visualisiert. Darüber haben wir dann gesprochen. Es wurde gemeinsam nachgedacht, ohne dass er versucht hätte, sich in meine Arbeit einzumischen.

Hat er konkrete Vorschläge gemacht?
Konkrete Vorschläge … doch, hat er. Er hat mir die Anekdote mit Dostojewski erzählt, die ich auch prompt in den Film übernommen habe. Aber letztlich hat er mir mehr auf eine andere Weise geholfen. Ich habe selten einen so umfassend gebildeten, belesenen Menschen kennengelernt. Wenn er von einem Problem hört, bringt er gleich Beispiele, wie dieses Problem in der Literatur oder im Theater gelöst wurde. So etwas ist natürlich sehr inspirierend.

Die Frage, wie man Literatur visualisiert, hat Sie stark beschäftigt. Welche Szenen sind diesem Reflexionsprozess entsprungen?
Es ist nicht nur eine Arbeit von mir. Es ist natürlich auch eine großartige Arbeit von Michael Gutmann, dem Drehbuchautor. Ein Drehbuch ist für mich dann gut geschrieben, wenn ich gleich einen Zugang zu ihm finde. Es muss meine Fantasie anregen. Ich muss sofort Bilder vor Augen haben. Ich persönlich fand das eine unheimliche Stärke in diesem Drehbuch. Auch die WDR-Redakteurin Barbara Buhl und die Produzenten Katharina M. Trebitsch und Benjamin Benedict haben mit nach Möglichkeiten gesucht, Literatur zu visualisieren. Wir wussten von Anfang an: Egal, welchen Zeitabschnitt wir im Film erzählen, die Literatur spielt im Leben Marcel Reich-Ranickis die entscheidende Rolle. Da ist es unerheblich, ob er acht Jahre alt ist oder 38. Seine Beziehung zur Literatur, das ist das Thema. Der Film ist voll damit. Das fängt schon bei der Szene an, als der zehnjährige Marcel in der Schule drangsaliert wird, weil er ein bisschen anders spricht und ein biss- chen anders ist als seine Mitschüler und von seiner Mutter getröstet wird. Ihr Versuch, ihn zu trösten, hilft ihm nicht sehr. Also greift er zu einem Buch, liest Karl May und zieht daraus, aus diesen Indianer- und Heldengeschichten, seine Kraft.

Die Literatur gibt ihm Kraft.
Sie rettet ihm das Leben in Polen, im Warschauer Getto und als er und Tosia beim Ehepaar Gawin untertauchen. Ja, sie rettet ihn sogar bei dem Verhör durch den polnischen Geheimdienst, auch wenn es nur sein eigenes Leben ist, das er erzählt. Er erzählt es so schön, dass sein Gegenüber, der polnische Offizier Krzysztof Kawalerowicz, ganz in seinen Bann gerät. Er vereinnahmt ihn mit seiner Geschichte. Und so sorgt der Geheimdienstoffizier dafür, dass Marcel Reich-Ranicki mit so wenig Schaden wie möglich aus dieser Situation herauskommt.

Sie sind in Tel Aviv geboren und dort in den 60er und 70er Jahren auch aufgewachsen. Haben Sie viele Holocaust-Überlebende kennengelernt?
Oh ja. Ein Beispiel: Als ich vier oder fünf Jahre alt war, hat eine Frau, eine Holocaust-Überlebende, immer um Mitternacht ihr Fenster aufgemacht – sie wohnte bei uns vis-à-vis – und hat ihrem Nachbarn zugeschrieen: “Du bist Eichmann! Du bist Eichmann! Eichmann!” Schon mit vier also war Eichmann für mich die Inkarnation des Bösen und Dämonischen. Ich bin jedes Mal aufgewacht, zu meiner Mutter ins Bett gekrochen und habe ihr gesagt: “Nechama schreit wieder.” Diese Frau ist noch bei 35 oder sogar 40 Grad mit einem langen schwarzen Mantel auf die Straße gegangen. Wir Kinder hielten sie für verrückt, haben sie mit Steinen beworfen. Ende der 60er Jahre, rund 25 Jahre nachdem sie aus Auschwitz befreit wurde, hat sie sich in ihrer eigenen Wohnung angezündet und ist so gestorben, wie sie wohl in Auschwitz gestorben wäre.

Damit bin ich aufge- wachsen. Diese Geschichten lassen einen nicht los. In Israel begleiten sie uns heute noch. Wenn man in Tel Aviv mit dem Bus fährt und plötzlich eine Nummer bei jemandem auf dem Arm sieht, dann weiß man sofort, was dieser Mensch durchgemacht hat. Diese Schicksale gibt es auch in meiner Familie. Inwieweit? Ich stamme aus Polen und der Ukraine mütterlicherseits und väterlicherseits aus Bulgarien. Der Teil der Familie, der in den 20er und 30er Jahren damals nicht nach Palästina emigriert ist, ist zu 80, 90 Prozent um- gekommen. Darunter waren auch meine Oma und mein Opa. Mein Onkel hat Auschwitz überlebt und hat ein Buch darüber veröffentlicht. Das alles hat mich schon sehr, sehr beeinflusst. Damit bin ich aufgewachsen.

Sind diese Erfahrungen auch in “Mein Leben” mit eingeflossen?
Ja, mit Sicherheit. Wenn ich auf der Straße in Breslau die Deportation der Juden inszeniere und die polnische Regieassistentin auf polnisch “Akcja” schreit, geht mir ein Pfeil durchs Herz. Das war schon auch für mich eine persönliche Reise in die Vergangenheit, klar.

Marcel Reich-Ranicki ist ins Land der Täter zurückgekehrt. Sie selbst haben in Ostdeutschland studiert. Wie war das für Sie?
Ich glaube, dass für jeden Juden – noch viel mehr für die Generation, die den Holocaust mitgemacht hat – die Begegnung mit Deutschland immer eine besondere Begegnung ist. Bei mir war es so, dass ich mit einer unglaublichen Anspannung diese Begegnung erwartet hatte, denn es war, als würde man dem Geist – diesem Dämon – ins Gesicht gucken und versuchen herauszufinden, wie so etwas passieren konnte. Mir ging bei jeder Begegnung mit einem Mann, der damals über 65 war, die Frage durch den Kopf: Was hat er im Krieg gemacht? Für einen Juden gibt es, glaube ich, kein normales Verhältnis zu Deutschland. Nach diesen ersten Begegnungen hat sich das in meinem Fall allerdings langsam normalisiert, und heute fühle ich mich sehr wohl hier.

Am Ende des Films kommt Marcel Reich-Ranicki in Frankfurt an und glaubt, in den Passanten die Täter von damals wiederzuerkennen. Das war Ihre Idee. Beruht diese Szene also auf eigenen Erfahrungen?
Es ist natürlich sehr poetisiert, aber ich nehme an, dass diese persönliche Erfahrung eine Rolle spielt. Ich glaube allerdings wirklich, dass sich in der Wahrnehmung Marcel Reich-Ranickis damals die Gesichter der Passanten mit den Gesichtern der Deutschen vermischt haben, die er auch gesehen hat – zu einem anderen Zeitpunkt, an einem anderen Ort. Die Filmszene ist also als Verstärkung der Befindlichkeit von Marcel Reich- Ranicki bei seiner Ankunft in Deutschland zu verstehen.

Was war die größte Herausforderung bei den Dreharbeiten für Sie?
Die größte Herausforderung und größte Verantwortung war es, den Schrecken dieser Zeit glaubwürdig und authentisch zu zeigen. Ich habe mich schnell entschieden, den Schrecken nicht mit naturalistischen Mitteln darzustellen, sondern mit anderen filmischen Mitteln. Die Grausamkeit und der Schrecken brodeln darunter, die ganze Zeit, bei den Figuren, bei den Men- schen. Und wenn ich über den Film nachdenke und ihn analysiere, dann glaube ich, dass diese Herangehensweise für mich sehr wichtig ist, eine filmische Umsetzung, auf die ich stolz bin.

Was macht Sie besonders stolz?
Ich habe zusammen mit dem Team etwas geschaffen, was nicht zu vergleichen sein wird mit Filmen wie etwa Der Pianist. Das war auch so eine Hürde. Der Pianist ist ein hervorragender Film von Roman Polanski, der genau in derselben Zeit spielt und ebenfalls von einem Künstler im Warschauer Getto handelt. Es bestand also durchaus die Gefahr, einen schon vorhandenen Film nachzumachen. Und das wollte ich auf keinen Fall.

Was sagen Sie zu der schauspielerischen Leistung von Matthias Schweighöfer und Katharina Schüttler?
Wir haben alle Rollen sehr lange gecastet, und ich bin sehr, sehr glücklich, dass ich diese zwei Schauspieler gefunden habe und dass die Redaktion und Produktion auf Anhieb mitgemacht haben. Was Matthias Schweighöfer da macht, was er durch dieses unglaubliche Ein- tauchen in diese Figur zeigt, das ist schon außergewöhnlich. Die Tiefe der Gefühle, die Seriosität, die Stärke dieser Figur, auch die typischen Bewegungen Marcel Reich-Ranickis – all das ist da. Bis heute glaubt ja nicht jeder, dass Matthias Schweighöfer diese Figur vom Schauspielertyp her verkörpern kann. Ich war unglaublich angetan von der Art und Weise, wie er an seine Rolle herangegangen ist und sie schließlich gespielt hat.

Und Katharina Schüttler?
Auch das war eine außergewöhnliche Leistung. Bei dem Casting für Tosia hatte ich am Anfang gar keine geeignete Szenen gefunden: Die Figur sagt kaum etwas. Und Katharina Schüttler hat es geschafft, aus dieser Figur, die auf dem Papier so wenig Hinterland hat, eine unglaublich dominante, starke Frau zu machen, die sich bei jedem Zuschauer als Protagonistin ins Gehirn einbrennt. Der Film hätte aber trotz der sehr guten Besetzung der Hauptrollen nicht funktioniert, wenn die anderen Charaktere nicht ebenfalls von hervorragenden Schau- spielern gespielt worden wären. Ich möchte die Einfühlsamkeit und Wärme von Maja Maranow hervorheben, die von Joachim Król überzeugend gespielte Labilität und Zerbrechlichkeit, die unglaubliche Kraft und Energie von Alexander Khuon, vielleicht die Entdeckung des Films. Sehr wichtig war auch die Besetzung des polnischen Geheimdienstoffiziers Kawalerowicz. Ich habe lange nach dieser besonderen Mischung von Intelligenz und Gefährlichkeit gesucht und bin sehr froh, mit Sylvester Groth einen Schauspieler gefunden zu haben, der diese Mischung überzeugend darstellen kann. Die Vielschichtigkeit, die er mit seinem präzisen Spiel dieser Figur verleiht, ist einmalig.

Quelle: Mit Material vom WDR

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