Zu Beginn des Jahres lieferte Netflix mit American Primeval eine überraschend starke Westernserie ab, die den Siedleralltag im Amerika des 19. Jahrhunderts als gnadenlosen Überlebenskampf porträtierte. Am 4. Dezember schickt der Steamer mit The Abandons den nächsten Western-Stoff ins Rennen.
Mit einer Laufzeit von weniger als fünf Stunden ist The Abandons ein erfrischend kurzweiliger Western-Binge für die Wintertage – aber auch ein frustrierender. Denn bis sich die Netflix-Serie von ihrer besten Seite zeigt, vergeht viel zu viel Zeit.
Western-Duell der Mütter: Das erwartet euch in The Abandons
Es ist das Jahr 1854: Im Washington-Territorium haben sich etliche Siedler:innen in der Kleinstadt Angel's Ridge niedergelassen, wo die skrupellose Constance Van Ness (Gillian Anderson) alle Zügel in der Hand zu halten scheint. Seit dem Tod ihres Ehemanns führt sie dessen Vermächtnis und Bergbauunternehmen fort, doch der Erfolg ihrer Firma und damit das Schicksal einer ganzen Stadt hängt von einer begehrten Silberader unter dem Talkessel Jasper Hollow ab. Nur leider weigern sich dessen Bewohner strikt gegen einen Verkauf ihres Grunds und Bodens.
Vor allem Fiona Nolan (Lena Headey) ist Constance ein störrischer Dorn im Auge. Seit einem Jahr schon versucht die Familie Van Ness mit drastischen Methoden, die fromme Irin zum Verkauf ihrer Rinderfarm zu zwingen – ohne Erfolg. Denn Fiona hat sich auf der Abandons-Ranch ein Zuhause für sich und vier adoptierte Außenseiter:innen geschaffen. Was Gott ihr gegeben hat, kann und darf ihr niemand mehr wegnehmen.
Als Constances Sohn Willem (Toby Hemingway) jedoch eines Nachts Fionas Tochter Dahlia (Diana Silvers) vergewaltigen will, kommt es zu einem tragischen Unglück, das die Fehde beider Familien in einem Blutbad enden lassen könnte. Und so müssen die Abandons und ihre Nachbarn von Jasper Hollow mit allen Mitteln verhindern, dass Constance die Wahrheit hinter dem Verschwinden ihres Sohnes erfährt.
Die Grundprämisse von The Abandons verspricht ein bedrohliches Intrigenspiel à la Yellowstone, das mit heimtückischen Angriffen und Gewaltakten für Spannung sorgt. Dieses Versprechen löst die Netflix-Serie auch im späteren Verlauf ein. Nur leider müsst ihr bis dahin vier holprige Episoden durchstehen, die nicht so ganz wissen, was sie erzählen wollen.
The Abandons wird von den eigenen Western-Ambitionen erdrückt
Serienschöpfer Kurt Sutter (Sons of Anarchy) ist mit großen Ambitionen an The Abadons herangegangen. Dass er das Projekt vor Fertigstellung verlassen hat und die ursprüngliche Länge von zehn auf sieben Folgen herunter gekürzt wurde, die teilweise sogar nur knapp über 30 Minuten lang sind, ist der Westernserie leider anzumerken.
The Abandons stellt uns direkt zu Beginn ein riesiges Ensemble an Figuren vor, das sicherlich eine zehnstündige Folge gut ausfüllen könnte. Nur lässt sich das Endergebnis viel zu wenig Zeit, um den zahlreichen Charakteren wirklich gerecht werden zu können. So gibt es etliche Figuren, die kaum mehr als Randerscheinungen sind und blass bleiben. Potenziell spannende Hintergrundgeschichten finden oft nur peripher Erwähnung, während dramatische Entwicklungen völlig überhastet wirken.
Obwohl The Abandons direkt mit einem hinterhältigen Angriff auf das Rindvieh der Abandons-Ranch beginnt, zeigt die Serie an der eigentlichen Fehde zwischen Fiona und Constance kaum Interesse. So dümpelt dieser Konflikt erstmal einige Folgen vor sich hin, in denen die Bewohner von Angel's Ridge vor allem äußere Krisen, wie einen Bärenangriff, verwundete Soldaten, schießwütige Banditen oder die Suche nach einem neuen Lehrer für die Dorfjugend bewältigen müssen. Dieser episodische Ansatz passt nur nicht zu der kurzen Laufzeit der Serie, die dadurch streckenweise unfokussiert wirkt.
Yellowstone gelang meisterhaft ein Spagat zwischen dem Alltags-Horror des Ranchlebens und den rabiaten Übernahmeversuchen gieriger Unternehmer, die den Duttons ihr Land wegnehmen wollen. The Abandons weiß aber nie so richtig, welcher Storyline und welchen Charakteren sie Aufmerksamkeit schenken soll – und vergeudet stattdessen wertvolle Zeit mit langweiligen Gesprächen über Glaube, Schuld und Familie.
Ein großes Problem dabei: The Abandons will sehr viel erzählen, hat aber keine Zeit, uns dies auch zu zeigen. Somit bleiben der schreckliche Terror, den die Familie Van Ness aus Fionas Familie ausübt, sowie andere essenzielle Handlungselemente bloße Behauptungen, die wir nie zu sehen bekommen. Ein Beispiel: Constances Motivation ist die Rettung ihres kriselnden Minenunternehmens und die Aneignung einer rettenden Silberader. Nur bekommen wir nicht einmal eine Mine oder besagtes Silber zu Gesicht.
Lohnt sich die Netflix-Serie The Abandons trotzdem?
Vor allem im Vergleich zu jüngeren Westernserien aus dem Yellowstone-Universum oder auch der Netflix-Eigenproduktion American Primeval kann The Abandons die Erwartungen an ein modernes Westernepos nie ganz erfüllen. Atemberaubende Landschaftsbilder werden teilweise durch unschöne CGI-Erweiterungen oder Greenscreen-Aufnahmen zerstört und kommen dank des glatten Netflix-Looks kaum zur Geltung.
Und während andere Genre-Vertreter das Leben im Wilden Westen mit ungeschönter Härte erzählen, bleibt The Abandons in Sachen Gewaltdarstellung überraschend zurückhaltend oder wendet den Blick von drastischen Momente immer wieder ab. Selbst aus Kurt Sutters eigener Kreation Sons of Anarchy sind wir Besseres bzw. Härteres gewohnt. Glücklicherweise versucht die Serie, dieses Problem in späteren Folgen zu korrigieren.
Wer die ersten vier Folgen durchhält, wird dafür zum Ende der Staffel hin belohnt. All die mörderischen Intrigen, Manipulation und Eskalation, die man von Beginn an erwartet, rasten schließlich ein und erschaffen eine bedrohliche Westernatmosphäre, die jeden Moment wie ein Pulverfass explodieren könnte.
Trotz aller Kritikpunkte lohnt sich The Abandons vor allem für die beiden Hauptdarstellerinnen Lena Headey und Gillian Anderson als konträre und komplexe Frauenfiguren, fernab einer simplen Gut-und-Böse-Zeichnung. Immer wenn ihre gegensätzlichen Bedürfnisse und Ziele kollidieren, zeigt die Serie ihre wahre Stärke. In Fiona brodelt unermüdlich eine unbändige Wut, während Constance krampfhaft ihre eiskalte Haltung bewahrt und ihre Emotionen in Schach hält – ehe sich diese in einem feurigen Showdown entladen.
Am Ende bleibt The Abandons ein durchwachsenes Westernepos (mit fantastischen Hüten!), das unter den eigenen Ambitionen zerbricht und zu lange ziellos umherwandert, ehe es sich in den letzten Folgen endlich findet – und dann frustrierend endet. Denn eine runde Geschichte mit Abschluss dürft ihr hier nicht erwarten.
Die 1. Staffel von The Abandons steht seit dem 4. Dezember 2025 bei Netflix zum Streamen bereit. Grundlage für diesen Serien-Check sind alle sieben Episoden.
