Die Beliebtheit von Kriegsfilmen nennen manche pervers. Wie kann man das brutale Hinschlachten von unzähligen Menschen unterhaltsam finden? Oder bereichernd? Aber Kriegsfilme setzen sich nicht zuletzt mit der Geschichte eines Landes auseinander, mit ihren Irrtümern und Opfern. Und kaum ein Land hat so stark die Pflicht, sich mit seiner Geschichte auseinanderzusetzen wie Deutschland. Da ist es vielleicht kein Wunder, wie beliebt hierzulande Filme wie Das Boot oder Im Westen nichts Neues sind. Oder welchen Sonderstatus Der Tiger bei Amazon genießt, dass er überhaupt im Kino läuft.
Denn der Film schafft, was bisher kein deutsches Amazon Original erreicht hat: Der Streaming-Dienst bringt ihn zuerst auf die Leinwand, bevor er digital erscheint. Das Vertrauen in die Kinolust des deutschen Publikums ist offenbar so groß wie die Hoffnung auf einen Oscar-Gewinn nach Im Westen nichts Neues-Vorbild. Aber wie gut ist Der Tiger wirklich?
Jetzt im Kino: Darum geht's im Amazon-Kriegsfilm Der Tiger
Der Tiger dreht sich um die Besatzung eines namensgebenden deutschen Tiger-Kampfpanzers, die 1943 an der Ostfront stationiert ist. Nach der Niederlage bei Stalingrad treibt die Rote Armee die Wehrmacht vor sich her. Doch während ihre Kameraden gen Westen fliehen, erhält die Truppe um ihren Kommandanten Philip Gerkens (David Schütter) einen Sonderauftrag.
Schaut euch hier den Trailer zu Der Tiger an:
Sie sollen hinter die feindlichen Linien dringen – und dort einen hochrangigen Wehrmachtsoffizier ausfindig machen, der auf deutsches Gebiet zurückkehren soll. Die Soldaten – keiner von ihnen ein nationalsozialistischer Fanatiker – folgen ihren Befehlen.
Dennis Gansel beweist mit Der Tiger Mut und Talent
Der Tiger besticht zuallererst mit seiner klug gewählten Grundidee: Sie kombiniert die klaustrophobische Enge der Leidensgenossen aus Das Boot mit der alptraumhaften Reisedramaturgie von Apocalypse Now. Er erreicht nicht die qualitativen Höhen dieser Vorbilder, aber die Neugier allein wird viele Zuschauer:innen weit in den Film tragen.
Regisseur Dennis Gansel (Napola) belässt es auch nicht bei einer vielversprechenden Prämisse, sondern inszeniert mit Gefühl für Spannung und Moral Szenen, die man im deutschen Kino bisher wenig zu Gesicht bekam. Etwa, wenn der Jungspund der Panzerbesatzung (Yoran Leicher) auf eine Mine tritt und in einer irrsinnigen Zitterpartie gerettet werden muss. Oder wenn die Protagonisten nachts auf eine SS-Truppe treffen, die im Hinterland ein ganzes Dorf massakriert.
Solche Szenen sind global nicht neu, sie gab es schon in Filmen wie Komm und sieh und Unter dem Sand, aber für einen deutschen Film beweisen sie den Mut zu großen dramaturgischen Ideen, die Gansel darüber hinaus auch packend inszeniert.
Der Tiger beweist: David Schütter und Leonard Kunz sind großartige Schauspieler
Der Anspruch dieser Ideen müsste aber schnell verfliegen, würden sie nicht von erstklassigen deutschen Schauspielern getragen: Insbesondere David Schütter als Kommandant Gerkens und Leonard Kunz als Fahrer Helmut beweisen hier ihr großes Talent.
Schütter spielt seinen Anführer mit genau der richtigen Mischung aus Härte, Zärtlichkeit, Einsicht und Verblendung. Ihm kauft man den Veteranen ab, sein Körper und sein Gesicht scheinen wie für die Rolle gemacht, seine Stimme trifft selbst in kleinen Szenen den richtigen, schneidenden, aber lebendigen Ton.
Kunz ist als Helmut so gut besetzt wie Erwin Leder als Maschinist Johann in Das Boot: Ein Mann, dem der Krieg ins Gesicht geschrieben steht, dem man Grauen, Wut, Verzweiflung und Trauer sofort ansieht. Er geht einen schmalen, schwierigen Grat zwischen schüchterner Vaterfigur und raubeinigem Bluthund. Auch Yoran Leicher beeindruckt als Symbol der Unschuld, die bald verkommen muss.
Der Tiger ist in manchen Szenen unbeholfen didaktisch
Allerdings leistet sich Der Tiger auch einige Schwächen, die ihn am Ende doch ins Mittelmaß befördern. So müssen manche Darsteller zwangsläufig über die unhandlichen Dialogzeilen stolpern, die ihnen mit didaktischem Eifer in den Mund gelegt werden. Gerkens etwa verteilt sein Aufputschmittel Pervitin – "Esst eure Panzerschokolade!" – mit dem Zeigegestus einer Guido Knopp-Dokumentation.
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Ebenso erzwungen wirkt es, wenn Keilig (Sebastian Urzendowsky) im Gespräch die Kriegslüsternheit des Dritten Reiches attackiert, das "den Lateinlehrer und den Winzer, den Lokführer und den Bauernjungen" zu mitmachen anhalte und ihnen keine Friedenszeit für Gedanken und Kritik lasse. Es klingt mehr nach den distanzierten Reflexionen der Autoren Gansel und Colin Teevan (Das Boot) als nach einem langjährigen Veteranen, der im Panzer von Deutschland nach Russland gefahren ist.
Der Tiger endet auf einem Twist, der die Geister scheiden wird
Von weiteren kleinen Schnitzern einmal abgesehen – etwa dem mittelmäßigen CGI mancher Szenen – wird aber vor allem das Ende des Films für Kontroversen unter den Zuschauer:innen sorgen. Ohne zu viel zu verraten: Der Tiger endet mit einem großen Twist, der die Story in einem anderen Licht erscheinen lässt.
Für manche Zuschauer:innen ist es vermutlich die lahmste und bemühteste Wendung der ganzen Filmgeschichte. Es gibt sie in vielen weiteren Filmen, darunter auch solchen mit Kriegsfilm-Thematik. Anderen aber wird sie gefallen. Die schiere Größe der Idee, ihr Potenzial, die Geschichte auf den Kopf zu stellen, ist für einen deutschen Film so mutig wie selten.
Der Mut reizt hier mehr als die Klugheit. Gansel setzt einen großen Hebel am Story-Fundament an und entblößt sich damit für möglichen Spott. Vor der kreativen Energie dieser Entscheidung aber muss man Respekt haben.
Der Tiger ist am Ende kein Meisterwerk, aber auch kein Reinfall. Für den ganz großen Wurf gibt es zu viele Schnitzer. Das Gespür für Stimmungen und die Inszenierung des Kriegshorrors ist gut, reicht aber nicht an Filme wie Komm und sieh oder Die Brücke heran. Dennoch: Über weite Strecken bleibt der Film packend, sieht gut aus und zeugt von einer Kühnheit, an der viele deutsche Filme sich ein Beispiel nehmen können.
Der Tiger läuft ab dem 18. September 2025 in den deutschen Kinos. In den folgenden Wochen wird er auch bei Amazon Prime Video erscheinen.