Mit Tenet hat sich Christopher Nolan soeben zurückgemeldet, um den wiedereröffneten Kinos in der Corona-Krise einen dringend benötigten Aufschwung zu verpassen. Das finanziell erfolgreiche Startwochenende des Films dürfte auch damit zusammenhängen, dass viele Zuschauer gleich mehrmals ein Ticket für Nolans Film gelöst haben, um den Knoten in ihren Köpfen nach dem Blockbuster irgendwie entwirren zu können.
Um sich die Hirnwindungen sogar noch ein Stück extremer als bei Tenet verdrehen zu lassen, reicht ab sofort auch ein Netflix-Account. Der Streamingdienst veröffentlicht heute den neuen Charlie Kaufman-Film I'm Thinking of Ending Things, der auf dem gleichnamigen Roman von Ian Reid basiert. Darin verwandelt sich der Besuch eines Pärchens bei den Eltern des Freundes in einen verwirrenden Mindfuck zwischen Zeit und Raum.
Passend zum Film
In I'm Thinking of Ending Things wird der Elternbesuch zum verschrobenen Albtraum
Am Anfang wirkt der neue Film von Charlie Kaufman noch recht gewöhnlich. Das Paar der Geschichte - er heißt Jake (Jesse Plemons), ihr Name wechselt ständig (Jessie Buckley) - sitzt im Auto auf dem Weg zu Jakes Eltern. Auf der langen Fahrt, für die sich der Regisseur rund 20 Minuten Zeit lässt, diskutieren die beiden ununterbrochen über verschiedene Themen, zu denen auch Filme und Kunst im Allgemeinen zählen.
Hier könnt ihr euch Trailer zu I'm Thinking of Ending Things anschauen
Trotzdem erzeugt der Film schon hier eine leicht ungemütliche Atmosphäre, bei der gerade die Voice-over-Gedanken der weiblichen Hauptfigur (mal Lucy, mal Louisa) einen düsteren Schleier über den Szenen ausbreiten. Mit der Ankunft des Paares im Haus aus Jakes Jugend kippt I'm Thinking of Ending Things endgültig in ein beklemmendes Kammerspiel.
Verschroben wäre noch eine recht freundliche Art, um die Ausstrahlung von Jakes Eltern (Toni Collette und David Thewlis in ebenso schrulliger wie beängstigender Höchstform) zu umschreiben. Die Situation mit allen vier Hauptfiguren an einem Tisch könnt ihr euch ungefähr als den unangenehmsten Familienbesuch vorstellen, zu dem ihr jemals mitgeschleppt wurdet.
Mit verschiedenen Details, zu denen unter anderem die schrille, langgezogene Lache von Jakes Mutter, eine geheimnisvolle Kellertür voller Kratzspuren oder das bewusst einengende, schmale 4:3-Bildformat gehören, wirkt I'm Thinking of Ending Things immer mehr wie ein Horrorfilm, in dem hinter jedem Gesichtsausdruck oder in jedem neu betretenen Raum des Hauses das pure Grauen hervorbrechen könnte.
Wer Ari Asters verstörendes Horrordrama Hereditary - Das Vermächtnis oder David Lynchs surrealen Klassiker Eraserhead gesehen hat, kann sich ein ungefähres Bild von der Familienstimmung in diesem Netflix-Film machen.
Hinter dem skurrilen Schauer von I'm Thinking of Ending Things steckt noch viel mehr
Doch Charlie Kaufman wäre nicht Charlie Kaufman, wenn sich hinter der offensichtlichsten Schicht seiner Werke nicht noch unzählige weitere verbergen würden. Als Drehbuchautor und Regisseur von Filmen wie Being John Malkovich, Vergiss mein nicht!, Synecdoche, New York und Anomalisa hat sich Kaufman den Ruf eines der eigenwilligsten Kreativköpfe Hollywoods erarbeitet.
Für Netflix durfte er sich auch komplett ohne Einschränkungen austoben und stellt unsere Wahrnehmung der Realität wieder einmal völlig auf den Kopf. Ohne zuviel zu verraten, wirken die Szenen in I'm Thinking of Ending Things spätestens nach der Hälfte der Laufzeit immer wirrer.
Figuren altern in derselben Szene plötzlich um Jahrzehnte, Outfits ändern von einem Schnitt zum nächsten ihr Aussehen und die weibliche Hauptfigur ist mal Studentin, mal Poetin und mal Malerin. Immer wieder stellt Kaufman festgeglaubte Identitäten seiner Charaktere infrage, bis nicht mehr klar ist, wer gerade wann real existiert und vor allem in wessen Kopf.
Am Ende werden 10 verschiedene Zuschauer 10 verschiedene Filme in I'm Thinking of Ending Things sehen, wobei Kaufman spätestens im gedankensprengenden Finale wieder vertraute Motive seines bisherigen Schaffens sichtbar macht. So lässt sich dieser Film unter anderem als Studie einer zerfallenden Seele lesen, die im sprunghaften Was wäre, wenn...?-Zustand durch schwammige Erinnerungen, alternative Realitätsvorstellungen und belastende Albträume wandert.
Sobald der Abspann dieses tollsten Netflix-Films der letzten Zeit einsetzt, für den sich der Regisseur auch stilistisch keine Grenzen gesetzt hat und kitschige Film-im-Film-Szenen mit Zeichentrick- und Musical-Einlagen mixt, tritt dann auch sogleich der aktuelle Tenet-Effekt ein. Sofort will man den Film noch einmal von vorne starten, um auf bestimmte Details zu achten, die erst im Nachhinein sinnvoller erscheinen, und Szenen durch den eigenen Wissensvorsprung ganz neu zu betrachten.
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Zu schade, dass Charlie Kaufmans Film nicht im Kino zu sehen ist, doch dank Netflix lässt sich dieses ebenso melancholische wie verwirrende Puzzle voller schiefer Teile per Knopfdruck wieder und wieder erleben.
I'm Thinking of Ending Things ist seit dem 4. September 2020 bei Netflix streambar.
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Schaut ihr euch I'm Thinking of Ending Things bei Netflix an?