Wozu Menschen fähig sind

23.07.2016 - 10:00 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
Komm und siehIcestorm Entertainment
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Komm und sieh. Eine Aufforderung, die nicht besser als Titel hätte gewählt werden können. Denn dieser Film ist einer der wenigen, die wirklich die Bezeichnung Antikriegsfilm verdienen - und die von jedem gesehen werden sollten.

Im Kommentar der Woche stellen wir euch jeden Samstag den Kommentar eines moviepilot-Users vor, der irgendwo auf moviepilot hinterlassen wurde. Zu einem Film, einer Serie, einer Person, einer News, ganz gleich wo. Fällt euch ein Kommentar auf, der an einem der zukünftigen Samstage hier stehen sollte, sagt uns Bescheid.

Der Kommentar der Woche
Mit seinem Kommentar zu Komm und sieh erinnert uns Seductive Barry an einen der vielleicht grausamsten und verstörendsten Filme, die je geschaffen wurden. Nicht nur wegen seiner schonungslosen Bilder, sondern vielmehr aufgrund der niederschmetternden Erkenntnis, mit der er uns zurücklässt.

Immer wieder wird gesagt "Der Film zeigt, dass es im Krieg keine Gewinner gibt." aber was heißt das schon? Wenn man sich diese Aussage auf der Zunge zergehen lässt, erkennt man ihre Banalität. Was bedeutet es denn schon, ein Gewinner zu sein? Möglichst viele Nazis abgeknallt zu haben? Seine Ängste überwunden zu haben, indem man frohen Mutes in die Schlacht gezogen ist? Nein, eher nicht. Dass es im Krieg keine Gewinner gibt - diese Aussage ist so trivial wie naiv.

Das eigentlich Erschreckende an 'Idi i Smotri!' ist die Fassungslosigkeit darüber, dass Menschen zu so etwas fähig sind. Dass sich Menschen bei vollstem Bewusstsein (?) denken, dass Russen gar nicht existieren dürfen. Dass man ohne jeden Anflug von Gewissensbissen Menschen in eine Scheune stopft (im wahrsten Sinne des Wortes) und bereit ist, jeden vor dem Tod zu verschonen - außer Kinder. Dass man Kinder von Hunden zerfleischen lässt (ein Augenzeugenbericht, den Klimow uns vorenthalten hat, weil er dem Zuschauer nicht zu viel zumuten wollte). Und - vor allem - dass man all das mit einem perversen Vergnügen tut. Dass all diese Gräueltaten und Genozide als Fest inszeniert werden, als Party, bei der man sich munter betrinkt und auf Kinder schießt. Bei der man vor einer Kamera mit einem Jungen posiert, der Angst hat zu sterben, weil ihm eine Pistole an die Schläfe gehalten wird. Solche Szenen sind der eigentliche Gräuel, der 'Idi i Smotri' so unerträglich machen: Man versucht zu realisieren, dass solche Taten immer noch von Menschen ausgeübt werden, aber man kann es nicht, weil die Grausamkeit dieser Taten zu erniedrigend ist.

Am Ende sehen wir dann auch keine Dämonen mehr. Wir sehen verängstigte Menschen, die plötzlich verzweifelt um ihr Leben betteln und um Mitleid bitten. Sie haben immerhin eine Familie. Das ist auch der Grund, wieso 'Idi i Smotri' verstört: Wir sehen keine Dämonen, wir sehen Menschen. Verzweifelte, wahnsinnige, verunsicherte, durch Propaganda manipulierte Menschen, die nicht wissen, was sie tun. Ein einziger Blick am Ende macht dies klar: Hinter dem Mythos Hitler, der nach wie vor mit einer morbiden Faszination betrachtet wird, steckt ein Mensch wie jeder andere. Ein Mensch, der Ambitionen hatte, Künstler werden wollte, der in seiner Kindheit wie wir alle zur Schule ging, der Vater und Mutter hatte. Diese Aussage mag zwar trivial klingen, aber das ist der erschreckende Kern von 'Idi i Smotri': Für all die Genozide und Massenmorde waren Menschen verantwortlich. Eine Tatsache, die so verdammt logisch klingt, aber irgendwie doch etwas unnatürliches mit sich bringt, weil alles einfach so ungeheuerlich ist.

Als ich mit den Film gestern zum dritten Mal angesehen habe, habe ich versucht zu realisieren, dass das Dargestellte auf Tatsachen beruht. Die massenhafte Vernichtung der Dorfbewohner, der Monolog des SS-Offiziers, das Gesicht Glaschas am Ende, das Gesicht Florians - all die Grausamkeiten und Traumata sollten wirklich in der Realität verankert gewesen sein? Ich konnte das nicht glauben, es ging einfach nicht und in dieser Fassungslosigkeit liegt auch eine Frage verborgen: Wie kann es sein, dass wir Menschen zu so etwas fähig sind? 'Idi i Smotri' gibt keine Antwort. Was der Film allerdings tut, ist die Vorstellung von einem eindeutig Schuldigen aufzulösen. Es gibt keine Schuldigen - und zugleich trägt irgendwo jeder Schuld. So ist auch der Schwenk zum Himmel am Ende fast schon ein Akt der Verzweiflung, ein Ausdruck einer Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Liebe, den Glascha nicht mehr zu verkörpern imstande ist - zu tief die Wunden des Krieges auch bei ihr. Was bleibt, ist Fassungslosigkeit. Fassungslosigkeit darüber, dass all das Dargestellte Realität ist und - mehr noch - die Andeutung einer viel grausameren Realität ist.

Am Ende bleibt nur die Trauer, weil Hass und Vergeltung die Leere nur noch verstärken. Ein Film über das Ende. Nicht das Ende von etwas bestimmtem, sondern allgemein über das Ende. Dieses Ende ist auch der Ursprung der Fassungslosigkeit, die 'Idi i Smotri' auslöst. Es gibt nicht nur keine Gewinner, es gibt auch keinen bestimmten Schuldigen.
In der Tat ein großer Film!

Den Originalkommentar findet ihr hier.

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