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"Alle Disclaimer wurden disclaimed"

17.05.2023 - 16:49 UhrVor 12 Monaten aktualisiert
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Thunder Road Pictures Catchlight Studios
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In diesem Artikel geht es um Inhalte, die bestimmte Personengruppen retraumatisieren oder zumindest verstören können. Es geht um Indianer, es geht um Wissenschaft, es geht um Selbstmord und es geht um tote Hunde. Viel Spaß!

Meine ganz persönliche Triggerwarnung reicht zurück ins Jahr 2019: Eine damals einzigartige Hitzwelle verdörrte Deutschlands Wiesen und Äcker und schuf die perfekte Kulisse für einen Winnetou-Film, den ich zusammen mit meiner Nichte und meinem Neffen drehte. Meine politische Korrektheit beschränkte sich damals darauf zu achten, dass die Kinderdarsteller keine Fantasie-Dialekte, á la "Manitu sein mächtig" zum Besten geben. Ein höhrenswerter Podcast brachte mich später dazu, dem ganzen Werk eine einordnende Texttafel voranzustellen.

Getriggert von Triggerwarnungen

Politisch sind solche Triggerwarnungen längst zum Kampfbegriff mutiert. Ihre Ursprung haben sie in linksliberalen Gesellschaftswissenschaften in den USA, um traumatisierte Menschen beim Studium wissenschaftlicher Arbeiten vor potenziell re-traumatisierenden Erfahrungen zu schützen. Für für liberal-konservative Geister sind vor allem Ausdruck für dem politisch korrekten Übereifer von Millennials, der zu Zensur in vorauseilenden Gehorsam befürchtet. Oder anders: Wenn irgendwann alles als potenziell traumatisierend deklariert wird, sind keinerlei kontroverse Debatten mehr möglich, ohne gecancelt zu werden. Wissenschaft benötige kein betreutes Lesen  - so die (verkürzte) Meinung. Auch die Popkultur hat das Thema längst für sich entdeckt  und satirisch verwurstet.

In der Wissenschaft sind Triggerwarnungen zumindest umstritten , da sie gleichsam auch als eine sich selbsterfüllende Prophezeiung wirken können, indem Betroffene erst durch Triggerwarnungen die traumatisierende Wirkung bestimmter Szenen gleichsam eingeredet wird. Zudem führe der inflationäre Gebrauch von Triggern zu einer Verharmlosung echter Traumata .

Ein totes Mädchen triggert Deutschland

Deutsche Film- und Serienfans kamen mit dem Phänomen erstmal mit der Netflix Show Tote Mädchen lügen nicht im großen Stil in Berührung. Das Teenager-Drama provozierte eine breite Diskussion über die Glorifizierung und Romantisierung  von Teenager-Suiziden. Neben den schon 2017 Triggerwarnungen in Form von Texteinblendungen, ließen die Macher den Cast ab Staffel 2 vor jeder Folge gebetsmühlenartig erklären, dass es sich bei der Serie um reine Fiktion handelt - quasi eine visualisierte Triggerwarnung. Die Twitter-Nutzerin lovesickplaces ging noch weiter und veröffentlichte eine umfassende Triggerliste  für alle Episoden der zweiten Staffel.


Machte den Anfang. Tote Mädchen lügen nicht.


Seitdem gehören Vorab-Triggerwarnungen, insbesondere die Streaming-Diensten zum festen Repertoire jeder Serie. Neben den "Klassikern" wie sexualisierte, Gewalt, rassistische Darstellung, Drogenkonsum etc. nehmen sie mitunter absurde Züge an: Die Webseite thedogdies.com  treibt diese Entwicklung auf die Spitze und listet über 120 vermeintliche Trigger, darunter auch der Einsatz von Wackelkamera, das Zeigen von Schaufensterpuppen oder potenziell traumatisierende Handlungselemente wie Treppenstürze und emotionaler Betrug. Funfact: Der Film Triangle of Sadness hält hier mit 36 Triggerwarnungen den Rekord. Ruben Östlund scheint zumindest sehr konsequent zu Werke geschritten zu sein.

Kunstfeindlichkeit?

Auch im künstlerischen Kontext sind Triggerwarnungen ein zweischneidiges Schwert. Wohlwollend könnte man sie als Weiterentwicklung einer Altersempfehlung für Filme betrachten. Der zunehmend inflationäre Gebrauch an Warn-Hinweise geht allerdings in eine komplett falsche Richtung. Will ich vorab wissen, ob in einer Serie Drogen konsumiert, nackte Menschen auftreten, Gewaltdarstellung gezeigt, oder eben Hunde getötet werden? Im harmlosesten Fall sind sie lediglich skurril, im schlimmeren Fall, wie die Twitter-Triggerliste von Tote Mädchen lügen nicht, spoilern sie im Grunde sämtliche dramatischen Szenen und Handlungselemente. In dem Bemühen der Filmindustrie dem vermeintlichen Zeitgeist Rechnung zu tragen, können sie ihre eigenen Kunstwerke beschädigen. Filme werden schließlich dazu gemacht, das Publikum in einem geschützten (fiktiven) Rahmen emotional und intellektuell herauszufordern, es an Grenzen zu bringen, diese auch mal zu überschreiten und zu überraschen. Plumpe Triggerwarnungen torpedieren dieses Erlebnis.

Anders gestaltet es sich mit Texttafeln, die Zeitgeist-Phänomene vorab erklärend einordnen  ohne das Kunstwerk zu verändern. Das ist schon deshalb wichtig, weil nicht alle Konsumente von Kunst, den gleichen Bildungshorizont haben. Eine Umfrage des MDR  unter Zuschauer der Karl-May-Festspiele ergab beispielsweise, dass etwa 40 Prozent tatsächlich glauben, dass die Festspiele ein realistisches Bild amerikanischer Ureinwohner zeichnen. Hier scheint es also einen echten Bedarf an Einordnung und Information zu geben.

Der richtige Umgang

Triggerwarnungen sind ein gutes Beispiel dafür, dass ein richtiger Grundgedanke trotzdem zu einer schlechten Entwicklung führen kann. Man kann beispielsweise trefflich darüber streiten, ob es reicht einen Film wie Ich. Bin. So. Glücklich. ab 18 Jahren freizugeben, oder ihnen aufgrund seiner inhaltlichen Auseinandersetzung mit menschlichen Traumata explizit mit Triggerwarnungen zu versehen . Für beide Entscheidungen gibt es valide Argumente. Ein einfacher Weg wäre es, dass man sie in Streaming-Portal optional ein- und ausschalten kann. So würde man nicht nur vermeintliche Zeitgeistphänomene bedienen, sondern auch neue Publikumsschichten erschließen, die sich von Triggerwarnungen triggern lassen.

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