Vorbehaltsfilme - Sinnvoller Umgang mit expliziten NS-Filmen

13.07.2018 - 08:00 UhrVor 6 Jahren aktualisiert
Hitlerjunge Quex / Triumpf des Willens / Ohm Krüger / Der große König
Murnau-Stiftung / Bundesarchiv / Leni Riefenstahl
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Ernst Szebedits, Vorstandvorsitzender der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, beantwortet uns einige Fragen zu den Vorbehaltsfilmen.

Gestern haben wir euch in unserem großen Themenspecial FSK - Index- Zensur - Ist das noch zeitgemäß? einen Meinungstext zu Vorbehaltsfilme - Gehört Nazi-Propaganda in den Giftschrank? präsentiert. Zum Thema haben wir zudem bei der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung um ein Interview gebeten. Die Stiftung pflegt, verwaltet und verwertet einen großen Teil des deutschen Filmerbes, ist auch Verwalter der sogenannten Vorbehaltsfilme. Das sind Filme, die zwischen 1933 und 1945 produziert wurden und auf Grund ihrer ideologischen Ausrichtung für die öffentliche Auswertung nur per Anfrage öffentlich gezeigt werden können. Beantwortet hat unsere Fragen Ernst Szebedits, der seit 2011 Vorstand der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung ist.

Es sind mehr als 70 Jahre seit der deutschen Kapitulation im Mai 1945 vergangen. Rechtfertigt sich da noch einen Vorbehalt gegen Filme, die zwischen 1933 und 1945 entstanden sind?
Es gibt keinen „Vorbehalt gegen Filme...“, es gibt nur sogenannte Vorbehaltsfilme, heißt, diese werden mit kontextualisierender Einführung und anschließender Diskussionsmöglichkeit aufgeführt, und ja, dies erscheint uns sinnvoll, sofern es sich um explizit rassistische, antisemitische, kriegs- und gewaltverherrlichende NS-Filme handelt.

Es gibt unklare Zahlen darüber, wie viele Vorbehaltsfilme es eigentlich gibt. Eine genaue Zahl ist nicht zu ermitteln. In einem Interview mit Stiftungsmitglied Anne Siegmayer werden unkommentiert in einer Frage 44 Filme genannt, bei Wikipedia werden 42 aufgelistet. Wie viele sind es genau?
Im Bestand der Stiftung befinden sich 44 Filme, die unter den Begriff Vorbehaltsfilme fallen. Darüber hinaus gibt es unter anderem im Bundesarchiv Filme, die unter diesen Begriff fallen.

Angeblich gab es die letzte Überprüfung der Vorbehaltsfilme Mitte der 1990er Jahre. Das wäre knapp 25 Jahre her. Stimmt das? Wenn ja: Dazwischen hat sich enorm viel innerhalb der Gesellschaft und im Medienkonsum getan. Wenn nein: Wie ist das aktuelle Prozedere bei neueren Überprüfungen?
Überprüfungen der Vorbehaltsfilme im Sinne einer Freigabe nach Altersstufen (Vorlage bei der FSK) gibt es nicht. In der Nachkriegszeit wurden explizit antisemitische, rassistische, kriegs- und gewaltverherrlichende Filme und Filme, in welchen Nazisymbole sichtbar waren, als Verbotsfilme tituliert und aussortiert, eine sicherlich diskussionswürdige Vorgehensweise. Seit Gründung der Stiftung 1966 wurde der Umgang mit diesem Filmbestand, soweit im Besitz der Stiftung, immer wieder überprüft bzw. diskutiert. Die Thematik Vorbehaltsfilme ist bis heute regelmäßig Gegenstand der Diskussionen im Kuratorium der Stiftung, im Zusammenhang mit Projekten, in der Zusammenarbeit mit Filmwissenschaftler/innen, bei öffentlichen Diskussionen usw.

Zwei Runde Tische, von der Kulturstaatsministerin 2016 und 2017 einberufen (Filmwissenschaftler/innen, Vertreter/innen der Stiftung Deutsche Kinemathek (SDK), der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, der Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK), der Bundeszentrale für politische Bildung, des Zentralrats der Juden in Deutschland und der Sinti und Roma) haben ausführlich den Umgang der Stiftung mit den genannten Filmen diskutiert. Einigkeit bestand darin, dass dieser Filmbestand als historisches - und Bildungsgut unbedingt zu erhalten sei (Digitalisierung). Die Frage des Umgangs mit den Filmen in der bisherigen Form wurde durchaus kontrovers diskutiert. Thematisiert wurden auch Formen wie kritische DVD-Editionen, kommentierte TV-Ausstrahlungen und ähnliches. Hiergegen gab und gibt es nach wie vor massive berechtige Einwendungen.

Der Konsum von Medien funktioniert im Zeitalter des Internets und der Globalisierung anders als noch zum Beispiel vor 20 Jahren. Ist es da noch sinnvoll, an der in der Satzung festgeschriebenen Praxis von Vorführung, Vortrag und Diskussion festzuhalten?
Der aktuelle Umgang mit den Vorbehaltsfilmen ist nicht in der Satzung der Stiftung festgehalten, sondern beruht auf begründeten Beschlüssen des Kuratoriums.

Lässt sich Deutungshoheit, Kontext und Mehrwert bei der Vorführung von Vorbehaltsfilmen - Ziele, die sich die Stiftung gestellt hat - nicht auch anders in einem modernen Gewand herstellen? Zum Beispiel editierte DVD-Ausgaben, Audiokommentar von Experten über den Film, Live-Talk auf YouTube etc.
Siehe eine der vorherigen Fragen. Das lässt sich vorstellen, entspricht aber nicht der grundsätzlichen Haltung des Kuratoriums.

Manche Filme der Zeit, wie zum Beispiel Die Feuerzangenbowle, Junge Adler, Opfergang oder Die große Liebe mit Zarah Leander, präsentieren mehr oder weniger deutlich nationalsozialistische Ideale. Diese Filme sind wie die Mehrheit derzeit ohne Vorbehalt sichtbar. Dabei wären hier ebenfalls Diskussionen notwendig. Es hat den Anschein, als würde mit unterschiedlichen Maßstäben gemessen?
Stimmt. Das ist ein durchaus spannendes Thema und eine berechtige Frage, mit der sich nicht nur die Stiftung immer wieder auseinandersetzt.

Diese schwerwiegende und sicherlich in großen Teilen fragwürdige Entscheidung zwischen Propagandafilm und Unterhaltungsfilm wurde in der Nachkriegszeit naiv getroffen und entspricht, insbesondere nach heutigen Erkenntnissen über die Filmproduktion im Dritten Reich, keineswegs den Gegebenheiten. Im Dritten Reich gab es keine Filmproduktion ohne propagandistischen Hintergrund, wie gut verpackt auch immer. Gleichwohl gibt es einen qualitativen Unterschied zwischen „nazifreien Unterhaltungsfilmen“, die genau diesen Zweck der Unterhaltung und Ablenkung hatten und erfüllten – und bis heute erfüllen -, die ohne den historischen Kontext von jungen Leuten heute nicht mehr als Kino der Nazizeit zu identifizieren sind und zum Beispiel offen antisemitischen Filmen wie Jud Süß.

Von den 44 Vorbehaltsfilmen im Bestand der Stiftung sind ganz wenige Filme regelmäßig im Einsatz (Bildungsveranstaltungen, Schulveranstaltungen, öffentliche Kinovorführungen): Jud Süß, Hitlerjunge Quex, Kolberg, Ohm Krüger, Die Rotschilds und Ich klage an.

Aus einem Interview mit computerbild aus dem März 2014 ist zu entnehmen, dass die Stiftung mit YouTube im Gespräch sei, um von dem Portal Vorbehaltsfilme zu entfernen. Ich habe es ausprobiert: Jud Süß, Kolberg etc. kann ich immer noch sehen. Wie ist der aktuelle Stand?
Die Gespräche mit Google/YouTube haben leider zu keinem für die Stiftung geeigneten Ergebnis geführt. Die Stiftung veranlasst in unregelmäßigen Abständen die Löschung der Filme bei YouTube, was allerdings nur dazu führt, dass diese kurz danach wieder online sind. Eine Sisyphosarbeit, die wir nicht wirklich konsequent durchführen können. Hier zeigt sich allerdings auch die Rechtsauffassung der Träger der sogenannten sozialen Medien (was an Angeboten von Großkonzernen zur Ausbeutung von Daten sozial ist, hat sich mir persönlich bis heute nicht erschlossen!) im Umgang mit Urheberrechten und den illegalen Angeboten im Netz.

Selbstverständlich ist es Google/YouTube durch unsere regelmäßigen Sperrversuche bekannt, dass diese Filme illegal gezeigt werden. Entsprechende Markierungen – technisch kein Problem - würden dies konsequent verhindern, ist allerdings ganz offensichtlich nicht im „rechtlichen“ Fokus der „sozialen Medien“. Von Google wird hingegen von der Stiftung erwartet, dass wir die stiftungseigenen Filmbestände zum Markieren/Digitalisieren Google zur Verfügung stellen - dies vor dem Hintergrund eines fragwürdigen Verhältnisses von Google zu Rechtefragen ganz allgemein, erscheint uns dann doch problematisch und die Stiftung nimmt notgedrungen in Kauf, dass Rechte im Netz keine Geltung mehr haben.

Wer will, kann Vorbehaltsfilme in den USA, Großbritannien oder Österreich offiziell kaufen. Sind die Vorbehaltsfilme in Zeiten der Globalisierung damit nicht obsolet geworden?
Ich vermute, Sie meinen nicht, dass Vorbehaltsfilme „obsolet geworden“ sind, sondern der Umgang der Stiftung mit diesen Filmen?

Was immer illegal mit den Filmen bzw. Filmrechten der Stiftung geschieht, kann nicht dazu führen, diese Praktiken dadurch nachträglich zu legitimieren, indem die Stiftung ihre Haltung aufgibt. Diese Frage stellt sich selbstverständlich nicht, gleichwohl wird, wie oben bereits ausgeführt, der Umgang mit den Vorbehaltsfilmen vor dem Hintergrund der medialen Möglichkeiten immer wieder diskutiert.

In einem Interview mit dem Goethe-Institut vom Juli 2016 heißt es, dass die Stiftung an Fernsehausstrahlungen arbeitet, mit einer ähnlichen Kontextualisierung wie bei den Kinovorführungen und an DVD-Editionen zu Vorbehaltsfilmen. Was ist jetzt, zwei Jahre später, aus diesen Projekten geworden?
Leider nichts. Hier wurden bisher noch keine praktikablen Lösungen, die dem Anspruch der Stiftung, des verantwortungsvollen Umgangs mit dem filmischen Erbe entsprechen würden, gefunden.

Abschließend: Explizit antisemitische, rassistische, kriegs- und gewaltverherrlichende NS- Filme unter Vorbehalt zu zeigen, heißt einzig, dass diese Filme in der originären Rezeptionssituation (Kino oder Vorführsaal mit Leinwand) jederzeit gezeigt werden können und sollen (es gibt keine Zensur und keine Indizierung der Filme). Als Mehrwert kommt hinzu, dass diese Filme bei öffentlichen Aufführungen ebenso wie bei geschlossenen Bildungs- und/oder Schulvorstellungen eingeführt werden und nach der Aufführung eine Diskussion angeboten wird.

Wenn man sich ernsthaft mit der möglichen propagandistischen Wirkung dieser Filme heute auseinandersetzen will, ist diese Rezeptionssituation eine grundlegende Vorbedingung, nimmt man Film und Kino ernst.

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