Der
Winter steht vor der Tür. Und wenn man an Winter denkt, hat man
vielleicht Bilder von schneebedeckten Landschaften, die wunderschön in
der Sonne glitzern, vor Augen: Zugefrorene Seen zwischen
schneeverhangenen Bäumen, rotbäckige Kinder, die einen Schneemann bauen
oder einen Hügel hinunterrodeln, oder sternenklare Nächte, die durch das
Mondlicht eine märchenhafte Atmosphäre verbreiten. Schnee bedeckt all
den Dreck und macht die Konturen der Welt rund und weich. Doch Schnee
und Kälte können auch stets bedrückende Gefühle auslösen. In all
denjenigen, denen in der kalten Jahreszeit ein warmes Dach über dem Kopf
fehlt, muss die Vorstellung von Winter gänzlich andere Bilder
hervorrufen.
Auch in Erzählungen, Romanen oder Filmen wird der
Winter gerne als filmischer Hintergrund für sozialkritische oder
emotional belastende Geschichten herangezogen. Beispiele dafür könnten Fargo, Gnade oder Shining
sein. So wird der Winter zum Synonym für eine gefühlskalte,
unbarmherzige Welt. Und wenn ich an Schnee denke, fällt mir als Erstes
das dänische Märchen "Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern" (Den lille Pige med Svovlstikkerne) von Hans Christian Andersen ein. Erstmals wurde diese Erzählung im Dezember 1845 veröffentlicht.
Wer
kennt sie nicht, die zugleich schöne wie erschütternd traurige
Geschichte vom armen kleinen Mädchen, das am Silvesterabend Zündhölzer
verkaufen muss? Sie stammt aus ärmlichsten Hause, ist nur wenig wärmend
gekleidet und weil die beschäftigten Passanten sie und ihre Not
übersehen, verdient sie an diesem Abend keinerlei dringend benötigtes
Geld, weshalb sich das Kind nicht nach Hause wagt. Sie kauert sich
frierend in eine Ecke und zündet sich verzweifelt eines der
Schwefelhölzchen
an, um ein Gefühl von Wärme zu erzeugen. Doch das Streichholz verlischt
zu schnell, sodaß sie auch weitere Streichhölzer anzünden muss. Aufgrund
von Müdigkeit und Kälte geht sie in eine Welt der Träume und Wünsche
über bis sie schließlich ihre Großmutter sieht, die sie in den Himmel
begleitet. Der sanfte Erfrierungstod als Erlösung von einer
umbarmherzigen Welt, die einem kleinen Mädchen nicht einmal Almosen
zugesteht. Wohlhabende Menschen im Konsumrausch, die für die Schwächsten
in unserer Gesellschaft das Existenzminimum verweigern. Hans Christian
Andersens Erzählung hat selbstverständlich auch heute
noch größte Relevanz. Und
gerade in der winterlichen Advendszeit: Weihnachten, das Fest der Liebe!
Andersons Geschichte wurde mehrfach verfilmt. The Little Match Seller (1902) von James Williamson dürfte die erste Verfilmung überhaupt sein. Der achtminütige Kurztrickfilm The Little Match Girl von Arthur Davis wurde 1938 für einen Oscar nominiert. Weitere filmische Umsetzungen sind der US-Fernsehfilm Das Mädchen mit den Wunderhölzern (1987) und der ebenfalls für einen Oscar nominierte Disney-Kurzfilm The Little Matchgirl von Roger Allers (2006). Dann gibt es noch die deutsche Fernsehverfilmung Das Mädchen mit den Schwefelhölzern (2013), ein Teil der Märchenfilmreihe "Sechs auf einen Streich". Auch in Asien blieb die Geschichte nicht unentdeckt: Resurrection of the Little Match Girl (2002) ist beispielsweise ein koreanischer Film. Aber hier möchte ich den französischen Stummfilm Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern (Originaltitel: La petite marchande d’allumettes) aus dem Jahre 1928 vorstellen. Der halbstündige Kurzfilm stammt von Jean Renoir, dem Sohn des impressionistischen Malers Pierre-Auguste Renoir. Jean ist der Regisseur von solch bedeutenden Klassikern wie Die große Illusion oder Die Spielregel .
Das junge Mädchen ist in Renoirs Verfilmung allerdings etwas älter als man sie sich aus Andersons Geschichte vorstellen mag. Tatsächlich wurde die in diesem Film Karen genannte junge Dame von Renoirs damaliger Frau Catherine Hessling gespielt, die zu diesem Zeitpunkt schon Ende Zwanzig war (aber doch recht jung aussah) und bereits in einigen Filmen ihres Mannes die Hauptrolle übernommen hatte; zum Beispiel in Nana. Allerdings sollte Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern die letzte Zusammenarbeit der zwei sein, da sie sich kurze Zeit später scheiden liessen. Die als Andrée Heuschling geborene Hessling war übrigens eine der Letzten, die für Renoirs Vater Pierre-Auguste Modell standen, wodurch sich das dann immerhin zehn Jahre lang verheiratete Paar kennen lernte. Dies wurde unter anderem in dem Film Renoir von Gilles Bourdos aus dem Jahre 2012 thematisiert.
Doch nicht nur im Alter des Mädchens weicht Jean Renoirs Verfilmung etwas von Andersons Erzählung ab. Der größte Unterschied liegt wohl in der avantgardistischen Traumsequenz, die vielleicht etwas zu ausführlich ausgefallenen ist; immerhin nimmt sie etwa die Hälfte des Filmes ein. Karen zieht sich aufgrund der harten Umstände in eine Traumvorstellung zurück: Einem mit Wundern erfülltes Spielzeuggeschäft, in dem Spielzeugfiguren lebendig werden. Das Mädchen verliebt sich in einen Holzsoldatenleutnant. Zusammen fliehen sie vor einem berittenen Husaren, der für den Tod steht. Es kommt in den Wolken zu einem folgenschweren Kampf. Am Ende der Traumsequenz verwandelt sich ein Kreuz in einen Baum, dessen Blüten auf das in Wirklichkeit in den Tod gleitende Mädchen wie Schneeflocken herabrieseln. Der eigentlich so schreckliche Erfrierungstod wird so zu einem friedlichen und schönen Moment.
Karens Fantasiewelt stellte Renoir mit einer wundervoll reichhaltigen Bildkunst dar. Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern ist eine für damalige Begriffe technische Meisterleistung gewesen. Renoir konnte schon früh hervorragenden Gebrauch von modernsten Tricktechniken machen. Die einfache Geschichte wird davon in ihrer Tragik vielleicht etwas abgeschwächt, aber ist noch immer ergreifend traurig. Insbesondere die gesellschaftliche Diskrepanz zwischen der gehobenen Klasse und dem Ärmsten der Armen wird hervorragend dargestellt. Eine letzte Szene in Renoirs stummen Kurzfilm zeigt sogar eine gewisse Gefühlskälte der Mitmenschen gegenüber dem Tod des Mädchens, was die Aussage umso bitterer erscheinen läßt.
-----------------------------------------------------------------------------
Auch ihr, liebe Leser, könnt bei dem Projekt "Blog Me If You Can" mitmachen und etwas zu dem nächsten Monatsthema schreiben. Wie das funktioniert, erfahrt ihr in den FAQs. Am 1. Januar 2016 wird es einen Übersichtsartikel zum ersten Jahr unserer Community-Aktion geben. Das Thema für den 1. Februar steht momentan noch nicht fest, wird aber spätestens Anfang Januar bekannt gegeben. Wenn ihr Interesse habt, meldet euch einfach bei chita91 oder Grimalkin!
Alle weiteren Texte zum Thema "Winter is comig!" findet ihr hier:
Grimalkin: Schnee in Japan
chita91: Snowpiercer: Keep life going
Amarawish: Das kalte Herz: Der Archetyp der Schneekönigin
ElsaWaltz: Winterfilme
Garcia: Ballet de Suburbia: Eine Weihnachtsgeschichte
Martin Canine: Euch allen ein faules Fett!
pleasant28: tick-tack: Die Geschichte einer Kuckucksuhr
SmooliEntertainment: Under The Skin, da, wo die Wärme wartet
*frenzy_punk<3: Oh du Konsumrausche!
Radagast07: Winter is coming
Und hier gibt es eine Übersicht sämtlicher bisherigen "blog me if you can" Artikel.