"Nippon Connection. Japanisches Filmfestival. Frankfurt am Main." Eine androgyne Roboterstimme aus dem All ruft einem vor jeder Vorstellung noch einmal ins Gedächtnis, wo man sich gerade befindet. Auf dem Festival flackern an sechs Spielorten und sechs Tagen über 100 Filme über die Leinwand und jede Menge japanische und nicht-japanische Gäste geben sich dazwischen zum Plausch die Ehre. Zwischen Origami, Manga-Porträts, 80er-Arcade Games, heißem Takoyaki und Frozen Kirin (!) ist es unmöglich, auch nur annähernd alles zu sehen. Der Versuch einer Auswahl.
Die ungeteilte Aufmerksamkeit des deutschsprachigen Publikums hat oft nur ein Bruchteil dessen, was die japanische Filmindustrie im Jahr so ausspuckt – jeder kennt Godzilla, Anime und Ghibli, viele den altehrwürdigen Akira Kurosawa oder die Regie-Chamäleons Takashi Miike und Shion Sono. Aber auch jenseits des Tellerrands sind sich Film-Junkies und Kritiker oft einig, was die grundlegenden Qualitäten des japanischen Kinos sind: überbordende Kreativität, der Mut zum Stilbruch, zum Blödsinn – und zu mitunter recht gewagten Themen.
Die Ausgestoßenen
Outlaws und Vertriebene, die sich mal mehr, mal weniger freiwillig dem Leistungsdruck und Konformismus der japanischen Gesellschaft entziehen, sind dabei nur ein Aspekt des aktuellen Festivals, maßgeblich in der in diesem Jahr eingeführten Sektion „Nippon Docs“. So zum Beispiel in A Free Man am Eröffnungstag: Der deutsche Regisseur Andreas Hartmann hat über Monate hinweg den 22-jährigen Kei mit der Kamera begleitet. Dieser hat sein Elternhaus verlassen, lebt in Kyoto unweit des Kamogawa-Flusses unter einer Brücke, flüchtet sich in Militärfantasien und romantische Musik und weiß nicht so recht, was er sonst mit seinem Leben anfangen möchte. Die Kamera lässt kaum Distanz zu ihrem Protagonisten zu, trotzdem entsteht ein eher verhaltenes und kühles Porträt eines Verlorenen, für den es nirgendwo einen Platz zu geben scheint.
Of Love & Law von Hikaru Toda porträtiert eine ganz andere Gruppe Unsichtbarer: Kazu und Fumi leiten nicht nur eine Antwaltskanzlei zusammen – sie sind auch ein schwules Paar. Und ziehen für all jene in die Schlacht, denen ebenfalls außerhalb der gesellschaftlichen Normen eine Stimme fehlt: „perverse“ Vagina-Künstlerinnen, „verräterische“ linke Lehrer, Andersartige. Sich selbst wünschen sie nur eines: ein Kind. Ein interkulturelles Thema, findet Regisseurin Toda, die selbst zwischen London und Tokyo pendelt. Ihre mehrfach preisgekrönte Dokumentation ist wie zu erwarten nicht ganz kitschfrei, trifft aber ansonsten sehr richtige Töne und einen Einblick in den Alltag derer, die ständig verteidigen müssen, wer und was sie sind.
Die Bekloppten
Der Mittwochabend steht ganz im Zeichen bizarren Schwachsinns, wie bei der populären Reihe „Nippon Heimkino“: Trash-Ikone Jörg Buttgereit, der seine Vorliebe für abgründige und auf gesellschaftliche Konventionen großzügig pfeifende Stoffe mit zahlreichen Produktionen regelmäßig unter Beweis stellt, führt hier durchs Programm. Das Festival reicht dazu stilgerecht qualitativ fragwürdiges Bier und Chips. Unterstützung erhält Buttgereit von Indie-Filmemacher Alexander Iffländer, dessen Kurzfilm „Intergalactic Detektive Dr. Monkula“ – ein nach japanischem Vorbild bunt überdrehter Vorspann für eine fiktive 70er-Tonkusatsu-Serie um den titelgebenden, Monster bekämpfenden Affenmann vom Planeten F – den Heimkino-Abend eröffnet. Im Anschluss wird das Publikum Zeuge einer japanischen Spiderman-Variante aus den dunkelsten 70ern, in der Spidey, geleitet von einer außerirdischen Macht und unterstützt durch Kampf-Mechas und die liebevoll-miesesten Spezialeffekte der Geschichte, in die Schlacht gegen finstere Gesellen aus dem Weltall zieht. Man reibt sich verwundert die Augen: Das ist so dämlich, dass es schon wieder geil ist. Die amerikanisch-japanische Co-Produktion "The Manstar" aus den 50ern, in der ein US-Journalist einem verrückten japanischen Wissenschaftler zum Opfer fällt, ist dagegen schon fast zu konventionell inszeniert und fällt höchstens durch ihren plumpen Sexismus auf. Die beiden Live-Kommentatoren stören sich nicht daran und übertrumpfen sich gegenseitig mit absurdem, aber amüsantem Nerd-Wissen.
Fehlen praktisch nur noch Zombies: Eines der absoluten Highlights stellt die Zombie-Comedy "One Cut of the Dead" dar. Der mit Abstand witzigste Film meines Festival-Besuchs wartet zunächst mit knallhartem Splatter in einer halbstündigen, schnittlosen Plansequenz auf, bevor er volle Kanne diverse Meta-Ebenen einbringt und Lacher en masse provoziert. Ohne noch mehr zu spoilern: ansehen! Regisseur Shinichiro Ueda und Produzent Koji Ichihashi sind aufgrund der euphorischen Reaktion des Publikums zu später Stunde derart aus dem Häuschen, dass sie alles auf einem Foto festhalten möchten – inklusive höchst professioneller Arme-im-die-Luft-Zombie-Pose der Zuschauer. Knaller.
Die Furchteinflößenden
„Ich freue mich, meinen Film im Land von Dr. Mabuse zeigen zu können“: Als diesjähriger Vertreter des J-Horrors ist niemand Geringeres als Hiroshi Takahashi da, Drehbuchautor von „The Ring“. In seiner per Crowdfunding finanzierten Regiearbeit "Occult Bolshevism" gibt es aber keine langhaarigen Gruselmädchen, von denen es seither auf den Leinwänden nur so wimmelt, sondern einen sehr eigenen und zugegeben recht konfusen Ansatz zu den Themen Séance und Exorzismus. Es wird fleißig geklatscht, aber hat jemand im Publikum den Film wirklich verstanden? Dass Takahashi im anschließenden Q&A versucht, Okkultismus zu (linker) Revolution, inklusive eines bizarren RAF-Vergleichs, in Bezug zu setzen, macht alles nur noch verwirrender.
Geradliniger und subtiler kommt da der Science Fiction-Film Yocho (Foreboding) von Kiyoshi Kurosawa daher. Dessen Variation des klassischen Körperfresser-Themas und des sich anbahnenden Untergangs der Menschheit setzt auf unterschwelliges Grauen und zerrt an den Nerven, hat aber auch den ein oder anderen humorvollen Moment parat. Dem gelungenen Thriller kann man höchstens seine brutale Länge und gegen Ende dann doch ein wenig das Anbiedern an massentaugliches Erzählen ankreiden.
Die Verwirrten
Am Ende habe ich leider keinen Film gesehen, der einen der begehrten Nippon Cinema Awards erhaschen könnte, dafür aber meinen ganz persönlichen Sieger der Herzen: Isao Yukisada mit River's Edge. 1994, ein Jahr vor dem Giftgasanschlag von Tokyo und dem verheerenden Erdbeben in Kobe, begleitet der Film im 4:3-Format eine Gruppe ziellos umher wandelnder Jugendlicher, die sich auf der Suche nach sich selbst in Sex, Drogen und Gewalt verlieren. Yukisada trägt dick auf und fängt sich zum Schluss irgendwo zwischen Tragikömodie und Melodram, die 90er-Ästhetik und Plot Twists überzeugen. Coming-of-Age at its best, ein bisschen wie in Go, Yukisadas Meisterwerk von vor fast 20 Jahren. Im anschließenden Q&A wird dieser dann unerwartet persönlich und beschreibt ein Land im Wandel – heute sei der Tod präsenter in der japanischen Gesellschaft als damals. Nichts wird je wieder wie früher.
"Noise" von Yusaku Matsumoto greift ähnliche Themen auf und verlagert sie in die Gegenwart. Tatort: Akihabara. Das Vergnügungsviertel in Tokyo, Zentrum der japanischen Popkultur, ist 2008 Schauplatz eines Amoklaufs. Begleitet von Musikvideo-Ästhetik und einem donnernden Soundtrack zeigt Matsumoto absolut kaputte Figuren, deren Zukunft zwischen Spielautomaten, Idol-Girlgroups, unfähigen Eltern und organisiertem Verbrechen auf der Kippe steht. Hinter den glitzernden Fassaden der Unterhaltungsindustrie existiert Not und Elend, eine große Party am Vorabend der Katastrophe. Spontan ist der Regisseur selbst aus Japan eingeflogen und berichtet im Anschluss über seine Inspiration, den Film zu machen: den Selbstmord eines guten Freundes. Wenn Schmerz und Leid in Gewalt münden, wohin richtet man diese
–
gegen andere oder gegen sich selbst?
Der Schluss
Gegen so viel Subtext bleibt der Korruptions-Thriller "Recall", obwohl handwerklich sauber inszeniert und nicht spannungsarm, ein bisschen blass und konventionell. Einen kleinen Geheimtipp aber zeigte die Nippon Connection am Sonntagmittag in der Reihe "Nippon Animation": "Mutafukaz" ist ein merkwürdiger Hybrid aus Anime und französischem Cartoon, hier haben Comiczeichner Guillaume Renard und das japanische Studio 4°C zusammengearbeitet. Das Ergebnis ist ein audiovisueller Psycho-Trip par excellence, in dem Ghetto-Kids, Pumpgun-schwingende Gangster, dämonische Schattenviecher und außerirdische Verschwörer aufeinander treffen. Definitiv ein Vertreter der WTF-Kategorie. Und ein Riesenspaß!
Das alles ist nur ein Bruchteil dessen, was man dieses Jahr auf
der Nippon Connection bewundern konnte. Das Festival ist neben seinen Filmen eine Art Japan-Messe und bietet ein umfangreiches Kultur- und Begleitprogramm, das für jeden etwas zu bieten hat. Also wenn einem mal nicht der Sinn
danach steht, in ausgebuchten und – dem heftigen Sommerwetter sei
Dank – teils übertrieben warmen Kinosälen zu sitzen, kann man noch unglaublich viel mehr entdecken. Das hat Spaß gemacht! Extremen
Dank an moviepilot für die Gelegenheit und hoffentlich bis zum
nächsten Jahr.
Dōmo arigatō!
Dieser Artikel entstand im Rahmen einer Kooperation mit dem japanischen Filmfestival NIPPON Connection.