Unglaublich schön und erschreckend: Ich habe gerade einen der besten deutschen Filme des Jahres gesehen

14.05.2025 - 20:25 Uhr
In die Sonne schauen läuft im Wettbewerb um die Goldene Palme von Cannes
Neue Visionen
In die Sonne schauen läuft im Wettbewerb um die Goldene Palme von Cannes
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Verstörend, ambitioniert, einzigartig: In die Sonne schauen von Mascha Schilinski hat in Cannes Premiere gefeiert und ich werde ihn so schnell nicht auf dem Kopf bekommen.

Ein Junge und ein Mädchen sprinten über einen nächtlichen Feldweg, nur der Mond schaut zu. Die Kamera fliegt der puren Ekstase dieser beiden Menschen hinterher. Es ist eine atemberaubend schöne Sequenz in Mascha Schilinskis zweitem Spielfilm In die Sonne schauen.

Fast hätte es mich in dem 2.300-Plätze starken Premierenkino beim Filmfestival in Cannes aus dem Sitz gehoben, wie es später noch Figuren in diesem Film passieren wird. Fast, weil ich die ganze Zeit daran denken musste, dass die Füße der beiden bereits blutige Wunden hatten, bevor sie zum Sprint über die steinige Erde angesetzt haben. Freude und Schmerz liegen in dieser epischen und doch intimen Geschichte über vier Mädchen aus vier Epochen erschreckend nah beieinander. Es ist schon jetzt einer der besten deutschen Filme des Jahres.

In die Sonne schauen entfaltet eine Zeitreise durch ein Jahrhundert

Das rennende Mädchen ist Angelika (Lena Urzendowsky), die in den 1980er Jahren in der Altmark in Sachsen-Anhalt aufwächst. Der Bauernhof ihrer Familie liegt nur wenige Meter von der deutsch-deutschen Grenze entfernt. Ein schmaler Fluss trennt die Länder, aber er trennt auch das Publikum vom Rest der Welt. Denn In die Sonne schauen spielt sich fast ausschließlich auf diesem Bauernhof ab. Erweitert wird der Blick durch eine Zeitreise.

Hier ist der Trailer für In die Sonne schauen:

In die Sonne schauen - Trailer (Deutsch) HD
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Während Angelika in der DDR aufwächst, erlebt Erika (Lea Drinda) auf dem Hof die letzten Kriegstage in den 1940ern. Nelly (Zoë Baier) wiederum schaut zu, wie ihre Eltern in den 2020ern den Hof sanieren. Alma (Hanna Heckt) streunt durch denselben Bauernhof in den 1910ern. Ihre ist eine streng patriarchalische wie gläubige Familie des ausgehenden Kaiserreichs, in der die Töchter noch an benachbarte Bauernhöfe verhökert werden, wenn die Ernte ausbleibt. Im Vergleich zu Erika oder Angelika scheint Alma auf einem fremden Planeten zu leben.

Die Geschichten der vier Mädchen sind zum Teil lose miteinander verbunden, nach Verbindungsstücken zu suchen, hat sich für mich aber als fruchtlose Übung erwiesen. Eine konventionelle Familiensaga ist das nicht. Davon gibt es im deutschen und Weltkino glücklicherweise genug.

Der Tod durchzieht die Geschichten der vier Mädchen

In die Sonne schauen ähnelt vielmehr einem Geisterfilm von Malick oder einem Haneke mit Herz und Neugier. Stellt euch zusätzlich The Witch auf einem sachsen-anhaltinischen Bauernhof vor, eingehüllt in Sepia, und ihr erhaltet nach all diesen dürftigen Vergleichen eine Ahnung vom erzählerischen Freigeist dieses Films.

Statt entlang einer linearen Handlung, bewegt sich der Film in Echos und Spiegelungen durch die Zeit. Die Taten in einem Jahrzehnt hallen in einem anderen nach, als Erinnerungen oder Schlimmeres. Das düsterste Echo bildet nämlich der Tod. Egal in welchem Jahrzehnt wir uns gerade befinden, egal wie behütet die "modernen" Kinder erscheinen: Der Tod zieht seine Spur über den Hof.

Ein Fluch scheint auf Grund und Boden zu liegen, was stellenweise in Gruselmomenten verstärkt wird. Keine Jump-Scares wohlgemerkt, aber Bilder von einer Unheimlichkeit, die durch Mark und Bein geht. Fotos von drapierten Kinderleichen, Zooms ins Dunkle. Nicht nur die Zeiten verschwimmen in In die Sonne schauen, auch die Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits.

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Die 149 Minuten lassen das dröge deutsche Historienkino vergessen

In die Sonne schauen ist ein extrem ambitioniertes Werk, erst recht im Vergleich zu Mascha Schilinskis erstem Spielfilm. Die Tochter feierte 2017 Premiere, ist ein Drei-Personen-Stück mit Mutter, Vater, Tochter vor griechischer Kulisse und war der erste große Auftritt von Helena Zengel vor Systemsprenger.

Diesmal zeichnet Schilinski ein ländliches Panorama aus über 100 Jahren Deutschen-Geschichte. Die Schatten historischer Ereignisse reichen an den Zaun des Hofes. Ihre Auswirkungen werden jedoch zuvorderst über die Erfahrungen der Mädchen erzählt, ob in der Auseinandersetzung mit dem Sterben, der eigenen erwachenden Lust oder aber – der rote Faden schlechthin im Film – der Bedrängung durch Männer. Dabei bleibt der Film, obschon die ganz großen Themen des Lebens verhandelt werden, stets auf Augenhöhe der Mädchen.

In den 149 Minuten mit Alma, Erika, Angelika und Nelly habe ich deshalb die unzähligen teutonischen Prestige-Dramen mit Babelsberg-Bauten und glänzenden Oldtimern vergessen. Verschwunden waren während der Laufzeit die edlen Historienstreifen, die keine Fragen mehr stellen, weil sie alle Antworten zu glauben kennen. Stattdessen habe ich einen manchmal desorientierenden, oft erschreckenden und durchweg herausfordernden Film gesehen. In die Sonne schauen beweist einmal mehr, wie viel Leben (und Tod) im deutschen Kino steckt – wenn jemand den Mut hat, danach zu suchen.

Ich habe In die Sonne schauen beim Filmfestival von Cannes gesehen. Der Film kommt am 11. September 2025 in die deutschen Kinos.

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