Thelma - Carrie trifft X-Men in Joachim Triers betörendem Thriller

23.03.2018 - 11:00 UhrVor 6 Jahren aktualisiert
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Joachim Trier legt mit Thelma sein "Carrie" vor und Debütantin Coralie Fargeat seziert die Regeln des Rape-and-Revenge-Films. Ein kleiner Rundumschlag nach vier Tagen beim Festival in Sitges.

Dieser Artikel erschien am 09.10.2017 im Rahmen des Festivals des fantastischen Films in Sitges. Seit Donnerstag läuft Thelma auch in den deutschen Kinos.

Das Blut auf dem in der Sonne aufgeheizten weißen Pflaster ist vor Stunden getrocknet. Träge schlurfen die Sohlen durch die engen Gassen, berechnen den Weg zum Kino, obwohl das Hirn noch gebootet wird. Mit zwei oder drei Stunden Schlaf zwischen den Augenlidern ist es dank der Mitternachtsvorstellungen auch beim Filmfestival im spanischen Sitges jeden Morgen ein Kampf, sich aufzurecken, erst um sich gegen 7 Uhr online die Presse-Tickets für den nächsten Tag zu sichern, dann, um fürs erste Screening das Haus zu verlassen, obwohl man doch gerade erst heimgekommen ist von der uruguayischen Kiffer-Horrorkomödie, in der auffällig viel über Brasilien gewitzelt wurde, aber war das wirklich letzte Nacht, beziehungsweise heute Morgen, oder doch davor, also vorletzte Nacht, gestern früh, und warum muss die morgendliche Sonne über dem Mittelmeer so gleißend blenden und was genau macht das Blut auf der Straße? Manch Besucher braucht beim alljährlichen Zombie Walk in Sitges wohl gar kein Kunstblut für die perfekte Nachahmung des um alle Lebensenergie ausgelutschten Untoten-Looks. Die Filme und nicht zuletzt die enthusiastischen Zuschauer bieten glücklicherweise Motivation genug, jeden Tag als Cine-Walker durch die Stadt zu schlurfen. In den letzten Minuten von Joachim Triers Mysterythriller Thelma lag das aus dem tiefsten Innern empor schnellende Drängen auf Applaus regelrecht in der Luft. So viel Energie war noch übrig.

Mit Norwegens Vertreter beim diesjährigen Oscar wagt sich der Regisseur von Oslo, 31. August und Louder Than Bombs erstmals in Genrefilm-Gefilde, aber auf Joachim-Trier-Art. Der konsistentere unter den Weltkino-Triers hat sich zusammen mit seinem Co-Autor Eskil Vogt als Experte fürs Coming- und Being-of-Age-Kino und die emotionalen Krisen, die damit einhergehen, erwiesen. In Thelma wird die Kollision einer jungen Studentin (Eili Harboe) mit dem Wertesystem ihrer Eltern beobachtet. Es ist die beinahe universelle Geschichte einer Tochter, deren Perspektive und Sehnsüchte sich mit dem Verlassen des Elternhauses erweitern, was einen Konflikt heraufbeschwört. Nur erinnern die erzählerischen Stationen mal an Carrie - Des Satans jüngste Tochter, mal an X-Men - Der Film.

Thelma

Gegenüber ihren christlichen Eltern verschweigt die Biologiestudentin Thelma ihre aufkeimende Beziehung zu einer Kommilitonin, ebenso wie die Entdeckung ihrer übernatürlichen Kräfte. Diese entladen sich in quasi-epileptischen Anfällen. Ihr ganzer Körper scheint sich zusammenzuziehen, als solle die Entfaltung ihrer Macht mit jeder Muskelfaser verhindert werden. Obwohl sich Thelma gemächlicher entfaltet, als es die filmischen Verwandtschaftsverhältnisse erwarten lassen, ist die Superkraft weit mehr als eine aus dem Genrekino entwendete Metapher. Sie erweist sich vielmehr als integraler Bestandteil des betörenden Thrillers, der die mikroskopischen Gefühlswallungen seiner Heldin bis zur ehrfurchtsgebietenden Naturgewalt verfolgt, stets mit einem Gespür für die Feinheiten ihrer psychischen und physischen Wandlung. Es ist schließlich ein Film über die Befreiung eines Körpers aus geistiger Unterdrückung. Dabei wird dieser etwas anderen Heldenreise und ihrem durchaus vorhandenen Spektakel dieselbe Bedeutung beigemessen wie in anderen Filmen der Rettung der Welt vor apokalyptischen Stiernacken. Von der archaisch verstörenden Auftaktszene an schwingt allerdings die Ungewissheit mit, was diese Emanzipation kosten wird. Hier zeigt sich die Meisterschaft von Trier und Vogt, welche seit Auf Anfang von 2006 zu erahnen war. Thelma bleibt konsequent der Perspektive der sexuell wie intellektuell erwachenden Heldin verpflichtet. Auf einfache Feindbilder wird nichtsdestotrotz verzichtet.

Dem diametral gegenübergestellt ist der absichtlich generisch betitelte Revenge, der erste Film der Französin Coralie Fargeat. Die nach der Aufführung in Toronto gezogenen Vergleiche zum Kannibalen-Coming-of-Age-Film Raw aus dem letzten Jahr sind zwar vorschnell. Doch Fargeats poppige Aneignung des Rape-and-Revenge-Films hat durchaus ihre Vorzüge. In der Struktur folgt Revenge dem Handbuch des Genres und platziert die hypersexualisierte Jen (Matilda Anna Ingrid Lutz) inmitten von drei Männern, die allesamt schuldig werden. Einer vergewaltigt sie, einer schaut zu und einer (ihr Liebhaber) versucht, es unter den Teppich zu kehren. Beziehungsweise von der Klippe zu stoßen. So erwacht Jen gepfählt auf einem Baum und tritt ihren Rachefeldzug an. Derart überzogen werden die Genrebausteine rekonstruiert, dass man meint, einen erklärenden Audiokommentar zu hören. Tatsächlich macht Revenge bisweilen den Eindruck einer akademischen Arbeit, die ihr Bestes tut, sich als Film auszugeben. Dem kommt sie oft sehr nahe, sodass die überaus blutige Abrechnung ein lustvolles Eigenleben entwickelt, da weder Gore noch Humor ausgespart werden. Gleichzeitig wird im Film durchaus erhellend mit den Blick- und damit Machtstrukturen des Genres verfahren, die im Laufe der Spielzeit den Tätern abgerungen und verlagert werden. Das läuft nie so rund, verbindet Genre-Regeln und deren Variation nie so homogen wie es in Prevenge oder eben Raw geschieht. Auch weil Revenge als Film über ein Genre dieses letztlich zu unterschätzen scheint. Die moralischen Ambivalenzen des Rape-and-Revenge-Films werden beispielsweise zugunsten der gradlinigen Abhandlung völlig ausgeklammert. Der beste "Revenge" bleibt Tony Scott vorbehalten.

Revenge

Vielleicht sollte man sich vor Thelma oder auch Revenge probehalber durch den irischen Post-Zombie-Apokalypsen-Thriller The Cured quälen, um ihren Umgang mit Genretropen schätzen zu lernen. In The Cured nimmt Ellen Page ihren Schwager bei sich auf, der wie viele andere von einem Virus à la 28 Days Later infiziert und zur rasenden Bestie wurde. Die Heilung wurde zwischenzeitlich gefunden. Nun gilt es die Täter zu resozialisieren, während die resistenten 25 Prozent eliminiert werden sollen. Diese Weitererzählung über den Abspann anderer Genrevertreter hinaus könnte in The Cured allerdings mit jedem Filmmonster erfolgen, so austauschbar fällt die Auseinandersetzung mit der kannibalischen Vergangenheit seiner Hauptfigur aus. Ein grundlegendes Desinteresse am Genre tritt hier zugunsten einer einfallslosen Story über die Repression von Minderheiten zutage. Am für die Sinnesorgane enervierendsten äußert sich die inszenatorische Hilflosigkeit in den kreischenden Jump Scares auf der Tonspur. Während The Cured seine Genre-Elemente inkompetent als Mittel zum Zweck degradiert, finden Joachim Trier und Eskil Vogt in den Superkräften den perfekten Ausdruck für Thelmas innerliche Befreiung. Auf die Lust am Genre, auf das ehrfürchtige Erstaunen über die Macht der zierlichen Studentin, verzichten sie indes nicht.

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