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Another Earth - Nennt sich Erde 2 auch Erde 2?

01.05.2015 - 15:16 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
Bild zu Another Earth - Nennt sich Erde 2 auch Erde 2?
20th Century Fox, Grimalkin
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Es ist mal wieder so weit! Das Schreiberteam von blog me if you can erfreut euch einmal mehr mit erstklassigen Texten zu Film und Fernsehen. Und diesmal wird es philosophisch, denn das Thema lautet: "Ich²" ...

Stellt euch vor, ihr steht euch selbst gegenüber. Lassen wir alle Wahrscheinlichkeiten, jede Physik und jede Logik flöten gehen wie in einer Kapelle; ihr steht einfach direkt vor euch selbst. Was würdet ihr tun? Eine hypothetische Frage, die sich bestimmt bereits einige von euch irgendwann oder auch öfter im Leben gestellt haben. Es gibt sicher eine Menge Dinge, die man einander sagen will, obwohl man die Antworten doch bereits kennt, man will sich anfassen, um auch sicher zu gehen, dass das Gegenüber echt ist, es rauschen einem Abermillionen Gedanken durch den Kopf: Würde ich mich selbst mögen? Wie ist es, mir selbst beim Sprechen zuzusehen? Mit eigenen Augen zu beobachten, wie die Worte, genau betont, formuliert und mit der gleichen Setzung von Gedankenpausen, live aus meinem Mund kommen, ohne Bildschirm oder Spiegel dazwischen? Würde ich mir selbst folgen können? Wird mir dadurch erst bewusst, wie ich auf andere wirke? Oder wirke ich auf mich selbst zu klar dafür? Immerhin kenne ich mich ja. Wie ist mein Erscheinungsbild, meine Optik, Sprache, Körperhaltung, alles in Kombination? Und wenn ich übersentimental bin, wirke ich wohl nicht nachvollziehbar für andere, aber werde ich mich überhaupt nachvollziehen können?

Die Hypothese, und die Vorbereitung auf die Eventualität ihres tatsächlichen Eintritts sind der Kern von Another Earth, einem relativ unbekannten und mir ans Herz gewachsenen Film über Schuld und Bewältigung der eigenen Vergangenheit, und den Fehlern, die man gemacht hat. Erzählt wird die Geschichte einer Jugendlichen namens Rhoda, die eines Tages einen Autounfall verursacht, der die Familie eines Mannes tötet, diesen Jahre später nach Gefängnisaufenthalt wieder aufsucht, um sich zu entschuldigen, es aber nicht übers Herz bringt, ihm die Wahrheit darüber zu sagen, wer sie ist, und stattdessen ihre Dienste als Putzfrau anbietet. Sie wird die einzige Vertraute von John, einem Mann, dessen Lebenslust und -inhalt von einem Tag auf den anderen zerstört wurde. Aber wie hängt dies mit der Frage des Treffens mit sich selbst zusammen? Nun, als Rhoda den Unfall verursachte, vernahm sie eine Radiomeldung, in der behauptet wurde, es wurde ein neuer Planet entdeckt, der womöglich Leben beherbergen könnte. Nach Absitzen ihrer Haft ist es absolut klar: Es ist eine andere Erde. Die Kontinente, selbst sie Städte, alles gleicht sich bis aufs Haar. Zunächst hielt man es für eine Spiegelung, doch Tests ergeben, dass es sich um einen massiven Planeten handelt. Man weiß nicht, woher er kommt, nur, dass er von den physikalischen Einflüssen unseres Universums nicht betroffen ist, daher vermutlich aus einem parallel existierenden stammt. Aber das ist zu viel Wissenschaft und Theorie. "Another Earth" ist kein Science Fiction-Film, sondern ein philosophisches Werk um die allseits bekannte Frage: was wäre wenn?

Rhoda bewirbt sich für einen Flug zu Erde 2. Und sie fängt uns in der Idee. Denn wie bei jedem Film, der ein so hypothetisches Szenario schildert - sei es nun Komödie oder ernsthafter Film - stellt sich auch der Zuschauer, was er im Falle eines Aufeinandertreffens tun würde. Und wie dieser Moment aussehen würde. Damit beschäftigen uns wir, Rhoda und die anderen Personen, die live beobachten, wie die erste Kontaktaufnahme beobachten - in der die Frau in der Zentrale auf einmal bemerkt, dass sie kein Echo hört, sondern tatsächlich mit sich selbst spricht. Ihr Gegenüber klingt wie sie, und weiß Geschichten aus ihrer Kindheit, die nur sie selbst wissen kann. Nein, mehr noch. Dieses Gegenüber hat sie selbst erlebt. Und hier komme ich auch zum interessantesten Punkt, der einem womöglich nicht sofort durch den Schädel schießt: Wenn wir dieses andere Ich sehen, dann denken wir intuitiv: "Der sieht aus wie ich". Nicht aber: "Ich sehe aus wie der." "Wir nennen uns Erde 1, denkst du, die da oben nennen sich selbst auch Erde 2?" "Wahrscheinlich nicht.", so ein kurzer Dialog zwischen John und Rhoda.

Über diesen Aspekt habe ich, wenn ich darüber nachgedacht habe, wie es wohl wäre, mir selbst gegenüberzutreten, eigentlich kaum nachgedacht. Obwohl es mir natürlich klar ist. Denn warum sollte ausgerechnet ich das Original sein? Da schwingt auch bereits das in der Psyche fest verankerte Denken mit, wir wären der Mittelpunkt des Universums. Mit "wir" meine ich jeden einzelnen von uns. Ich denke das von mir. Du von dir. Und so weiter. Nicht bewusst, aber unterbewusst stellen wir uns immer über den anderen. Das ist auch nur logisch, denn wir kennen schließlich nur unsere Wahrnehmung. Ich sehe nur, was ich sehe. Ich fühle nur, was ich fühle. Dazu gibt es auch ein grandioses psychologisches Modell, auch, wenn ich gerade nicht darauf komme, wer es aufgestellt hat oder wie es heißt. Was wir uns nämlich, wenn überhaupt, erst sehr spät nach dem ersten Aufeinandertreffen überlegen: unserem Gegenüber rauscht exakt derselbe Gedanke durch den Kopf, zur selben Zeit. Denn wenngleich durch die Kommunikation die Synchronizität der 2 Erden vermutlich aufgehoben wurde, das andere Ich ist man immer noch selbst. Die gleichen Gedankengänge, die gleichen Bewegungen, die gleiche Sprache. Man funktioniert absolut gleich. Man könnte just zu dem Zeitpunkt, an dem die beiden Planeten gerade erst frisch begonnen haben, sich "inhaltlich" voneinander zu unterscheiden, problemlos auf die andere Erde reisen und ohne Umdenken auf ihr exakt so weiterleben wie bisher. Doch je weiter sie sich verändern, desto unterschiedlicher wird auch die eigene Existenz.

(Starke SPOILER):

Das Ende von "Another Earth" gab mir zu denken. Vor Allem in moralischer Hinsicht. Rhoda erhält das Ticket für die Reise zur anderen Erde, schenkt es aber John, da sie vermutet, dass seine Familie dort noch am Leben sein könnte. Immerhin geschah der Unfall, kurz NACHDEM sich die beiden Planeten entdeckt hatten. John nimmt, obwohl nur der Funke einer Hoffnung besteht, das Angebot an. Nach dessen Ankunft sehen wir "unsere" Rhoda wieder, die sich umdreht, und auf sich selbst blickt. Bedeutet das, dass Rhoda auf "Erde 2" nie in den Unfall verwickelt wurde, und somit John nie kennengelernt hat, um ihn das Ticket zu überlassen? Und wenn ja, dann lebt Johns Familie noch... aber auch der "andere" John. Was wird geschehen, wenn diese beiden Johns aufeinandertreffen? Wird es einen Kampf um die Familie geben? Think about that.



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Datum: 1. Juli

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