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Die vielen Leben der Chiyoko Fujiwara

01.05.2015 - 08:14 UhrVor 7 Jahren aktualisiert
Millennium Actress
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Es ist mal wieder Zeit für blog me if you can, die große Community-Blogaktion! Schreibfreudige Moviepiloten lassen kreative Blogartikel zu Filmen und Serien auf euch los, dieses Mal zu Fragen nach der eigenen Identität unter dem Thema "Ich²". Auch ihr, liebe Leser, könnt bei dem Projekt mitmachen und euch jederzeit dem aktuellen Monatsthema widmen. Wie das funktioniert, erfahrt ihr in den FAQ. Alle weiteren Texte zum Thema "Ich²" findet ihr am Ende dieses Blogartikels.

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"Wer bin ich?" ist eine essentielle Frage zur eigenen Existenz, zum eigenen Dasein und dessen Identität. Antworten darauf liefern Erkenntnisse zur Beschaffenheit des Lebens, welche Richtungen es einschlägt und warum es das tut. Prinzipiell ist die Identitätsfrage ein zentrales Motiv im gesamten Schaffen des Regisseurs Satoshi Kon. Die Dualität des Bewussten und Unterbewussten und das Verschwimmen zwischen Fakt und Fiktion finden wir in Perfect Blue ebenso wie in Paprika. Das Dilemma der gespaltenen Persönlichkeit und das Unterdrücken bestimmter Aspekte derselben ist Teil von Paranoia Agent, während das Verweigern der wahren Natur und die Verdrängung der eigenen Vergangenheit eine Rolle in Tokyo Godfathers spielt.

Apropos "Rolle": Darum geht es mir heute, um das Schlüpfen in verschiedene Rollen, um das Erweitern des eigenen Ichs durch ein vielfaches an fiktiven Persönlichkeiten, die gar nicht anders können, als einen Einfluss auf die tatsächliche Identität zu haben oder zum Spiegelbild zu werden. Aus diesem Grund soll heute Kons zweiter Film, Millennium Actress, Thema meines Textes sein.

Chiyoko Fujiwara und ein Bildnis ihres vergangenen Ichs

Im Mittelpunkt der Handlung steht der Versuch einer Dokumentation über die Ginei Filmstudios. Zum siebzigsten Geburtstag der Produktionsfirma machen sich Genya Tachibana und sein Assistent und Kameramann auf, das Aushängeschild Gineis zu interviewen: Eine berühmte Schauspielerin, die sich vor 30 Jahren aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat. Man könnte auch sagen, die Frage, die Genya und der Film stellen, lautet: Wer ist eigentlich Chiyoko Fujiwara? Eine Frage, die sich die inzwischen im hohen Alter befindliche Frau in ihrem Leben schon selbst gestellt hat.

Das Interview führt die Figuren und den Zuschauer ganz wörtlich in die Vergangenheit Chiyokos zurück, wenn sich ihre geschilderten Erinnerungen nicht nur visuell manifestieren, sondern auch die Wirklichkeit verschwimmen lassen, in dem Genya und sein Assistent sich am Rand und doch mitten im Geschehen wiederfinden. Das Leben der Darstellerin ist dabei natürlich unweigerlich mit ihren Rollen verbunden und so bewegt sich Millennium Actress nicht nur am Privaten der Frau entlang, sondern auch an ihrer Karriere. Und manchmal lässt sich beides ohnehin nur sehr schwer trennen.

Japan im Jahr 1931

Den Anfang dessen, was sich im weiteren Verlauf als berührendes Drama entpuppen wird, macht Chiyokos Kindheit im faschistischen Japan zu Zeiten der Mandschurei-Krise. Sie hilft ganz unverhofft einem mysteriösen Künstler und anti-faschistischen Aktivisten zur Flucht vor der Regierung und alles, was ihr nach dieser schicksalhaften Begegnung bleibt, ist ein Schlüssel, ein Versprechen und das Entfachen einer jungen Liebe, die zur größten Sehnsucht und zum Motor ihres Handelns werden sollte.

In der Hoffnung, ihn wieder zu sehen, geht das zehnjährige Mädchen auf das Angebot eines Produzenten ein, der eine junge Schauspielerin sucht. Der Dreh führt sie in die besetzte Mandschurei und ermöglicht ihr, dem Flüchtling auf der Spur zu bleiben. Es beginnt eine fantastisch und eindrucksvoll inszenierte Reise durch Raum und Zeit, durch japanische Film- und Kulturgeschichte, bei der Chiyoko in verschiedenen Filmen in tragenden Rollen zu sehen ist. Mal in ihrer damaligen Gegenwart, ein anderes Mal in einem Kriegsfilm der Sengoku-Periode, einem Ninja-Rachedrama der Edo-Periode oder als Geisha während der Meiji-Periode.

Chiyoko als Geisha in ihrem vierten Film

Diese filmischen Episoden inszeniert Kon dabei nicht nur als Bilderrausch mit - das kann man gar nicht anders sagen - überragendem Schnitt, sondern gibt dem Zuschauer auch nie eine Vorwarnung, wann das Gezeigte von Film im Film wieder zur narrativen Realität wechselt und umgekehrt. Dieses Vermischen von Chiyokos Filmrollen mit ihrem tatsächlichen Leben, wird zusätzlich dadurch bestärkt, dass die Frauenfiguren, die sie verkörpert, stets ebenfalls auf der Suche nach einem Mann sind oder ihm zur Rettung eilen. Die filmischen Ichs, die für Chiyoko eigentlich nichts weiter als Mittel zum Zweck sind, die sie näher an ihr Ziel führen, werden somit unfreiwillig zum Spiegel ihrer selbst und zum überzeichneten Abbild der Wirklichkeit. Die vielen Persönlichkeiten, die sie auf der Leinwand einnimmt, sind folgerichtig als Teil ihres Ichs untrennbar mit ihrem Leben verbunden, als Sinnbilder ihrer verzweifelten Suche, bis der Krieg ein jähes Ende zu bedeuten scheint.

Es ist wie das Erwachen aus einem surrealen Traum, wenn Kon den Zuschauer nicht mehr Chiyokos farbenfrohe Sehnsucht ausleben lässt, sondern ihn stattdessen mit Bildern der Zerstörung konfrontiert. Die Folgen des zweiten Weltkriegs bringen das Leben der Schauspielerin ins Wanken und plötzlich entsteht eine Diskrepanz zwischen ihrem Ich und ihrer Film-Persona. Die vage Hoffnung, dass der verschwundene Maler eines Tages einen ihrer Filme sieht und sie danach kontaktiert, bleibt zwar irgendwie noch bestehen, schwindet aber sichtlich. Das Leben im Film ist fortan nicht mehr ein unterstützendes Element in Chiyokos Suche; die Schauspielerin schließt privat mit allem, was sie antrieb ab und benutzt die Rollen, in die sie schlüpft nun als Flucht vor ihrem Dasein in der Realität. Die fiktiven Leben im Film sollen das eigene Leben vergessen machen. Ironischerweise ist es diese eskapistische Trennung ihrer Ichs, die Chiyoko Fujiwara den Höhepunkt ihrer Karriere und den Status als beliebtes Filmidol Japans beschert.

Die vielen Leben der Chiyoko Fujiwara

Als endgültiges Fazit kann Chiyoko vor ihrem Ableben dennoch keine Facette ihres Seins von sich stoßen. Ob gespielt oder real, all die verschiedenen Facetten ihrer Persönlichkeit sind Teil eines illustren Lebens und einer individuellen Existenz, wie es sie kein zweites Mal geben kann. Kon begleitet sie über 60 bewegte Jahre, spaltet sie in viele Abbilder und Inspirationen ihrer Wirklichkeit auf und fügt sie schließlich wieder zu ihrem wahren, allumfassenden Ich zusammen. Die vielen Leben der Chiyoko Fujiwara: Ein Leben.

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