Als ich während der Berlinale in der Lobby eines Hotels auf einen Termin warte, komme ich mit einer englischsprachigen Journalistin ins Gespräch. Es gäbe keine deutschen Stars, die international relevant sind, sagt sie. "Was ist mit Lars Eidinger?", frage ich. Sie lacht: "International kennt den niemand und in Deutschland mag ihn niemand." Beides ist so nicht ganz richtig.
Für seine Rollen im Netflix-Film Weißes Rauschen und der HBO-Serie Irma Vep wurde Eidinger international positiv hervorgehoben. Die New York Times bezeichnete ihn anlässlich einer Aufführung von Hamlet zwar als "den vielleicht besten Shakespeare-Schauspieler, von dem Sie noch nie gehört haben", attestierte ihm aber zunehmende internationale Bekanntheit. Und in Deutschland scheint das Film-, Serien- und Theaterpublikum zumindest wahnsinnig fasziniert von dem Schauspieler/Regisseur/Fotografen/Taschen-Designer/DJ.
Regisseur Reiner Holzemer wollte sich ebenfalls dem Phänomen Lars Eidinger annähern und hat ihn deswegen für neun Monate bei Theaterproben, Drehs und all den Momenten dazwischen begleitet. Herausgekommen sind dabei rund eineinhalb Stunden Einblick in den Schauspielalltag, Nacktheit, Tränen und manchmal vielleicht auch ein bisschen Wahnsinn.
Sein oder Nichtsein: Lars Eidinger will nicht mehr gefragt werden, wer er ist
Der Dokumentarfilm Lars Eidinger - Sein oder Nichtsein läuft ab dem 23. März 2023 in deutschen Kinos. Ich habe Lars Eidinger in Berlin getroffen und mit ihm über Eitelkeit, seine Ansprüche ans Publikum und die Frage gesprochen, warum ihm manchmal ein schlechter Ruf vorauszueilen scheint.
Moviepilot: Der Satz “Sein oder Nichtsein?” spielt in der Dokumentation und offensichtlich auch für Sie eine große Rolle. Gibt es Momente, in denen Sie mal nicht sind?
Lars Eidinger: Der Film beschreibt ja eigentlich genau das: dass ich immer ich bin. Er versucht mit dem Klischee aufzuräumen, dass es bei Schauspielerei darum geht, jemand anderes zu werden oder sich zu verwandeln. Es gibt ja so Formulierungen, die dahingehend ein bisschen verräterisch sind. Dass man sagt: “Das ist ja nur gespielt” oder “Mach mal nicht so viel Theater”. So wie ich es verstehe, ist Schauspielerei eher dazu da, man selbst zu werden. Es gibt Schauspielerinnen und Schauspieler, die sagen, ihr Beruf heißt lügen. Ich würde immer sagen: Mein Beruf heißt, aufrichtig zu sein.
Ist es nicht anstrengend, die ganze Zeit man selbst zu sein?
Es ist doch für uns alle anstrengend, da zu sein. Wir verhalten uns alle in
gewisser Weise immer in Rollen. Wenn Sie jetzt hier mit mir reden, reden Sie ja
anders als mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin, und wenn Sie auf ein Amt
gehen, reden Sie auch anders. Das heißt, es hat immer auch was mit einer
Facette oder einer Schicht zu tun, in der sich so eine Persönlichkeit
darstellt.
Wer sind wir denn wirklich? Und wer kann das schon von sich sagen? Journalisten fragen mich bei Rollen oft: “Wer ist das, den sie da spielen?” Da will ich immer fragen: “Ja, wer sind Sie denn?” Was soll ich denn darauf antworten? Ich bin doch im besten Fall alles und nichts. Deswegen ist es eigentlich kompletter Quatsch, nach einer Dokumentation zu glauben, dass man jetzt weiß, wie jemand wirklich ist.
Lars Eidinger über die kontroverseste Szene seines Kinofilms: "Ich habe mich um den Moment betrogen gefühlt"
Wie ist das für Sie als Schauspieler, wenn im Arbeitsalltag ständig eine Kamera dabei ist? Führt das automatisch dazu, dass alles zur Performance wird?Es ist natürlich genau das. Natürlich spiele ich die ganze Zeit. Aber ich liebe das Spielen, deswegen wertet das den Moment eher auf. Rückwirkend waren für mich eigentlich die schmerzhaftesten Momente die, in denen ich aus dem Augenwinkel gesehen habe, dass Reiner [Holzemer] die Kamera wegpackt. Es gibt ja einen Grund, warum jemand Schauspieler wird. Warum sich jemand auf die Bühne stellt und alle Scheinwerfer auf sich richtet. Das hat ganz viel mit dem Wunsch danach zu tun, gesehen zu werden. Deswegen fühlt es sich für mich erstmal gut an, wenn mir jemand zuschaut.
Wie fühlt es sich an, wenn jemand wegschaut?
Das taucht ja auch im Film auf, wenn der [Jedermann-]Regisseur, Michael Sturminger, mir nicht beim Spielen zuschaut. Für mich ist das der Kern des Films. Wenn jemand glaubt, dass ich mich da in meiner Eitelkeit gekränkt fühle und deswegen wütend werde, ist das genau dieses Missverständnis, mit dem der Film aufräumen will. Eitelkeit bedeutet nichtig, inhalts-, bedeutungslos, leer. Stattdessen geht es da um was, was ganz viel bedeutet, und alles, was mit Bedeutung aufgeladen ist, ist nicht eitel. Wie eben der Moment, in dem wir proben.
Das ist der Moment, nach dem mir im Stück Jedermann der Tod begegnet und ich als Schauspieler dazu aufgefordert bin, eine existenzielle Angst zu spielen, die in einer unmittelbaren Bedrohungssituation mündet und mit einer echten Emotion beglaubigt werden muss. Das gelingt mir auf der Probe. Ich komme in eine echte Emotionalität und ich weine.
In dem Moment, in dem ich das spiele, sehe ich, wie der Regisseur zur Assistentin herübergeht und der etwas ins Ohr flüstert. Da habe ich mich um den Moment betrogen gefühlt. Das ist, als würde einem Sportler bei Olympia etwas Außergewöhnliches gelingen und währenddessen sieht er aus dem Augenwinkel, dass sein Trainer das Stadion verlässt. Da verstehe ich gar nicht mehr, warum ich es eigentlich mache. Für mich muss ich es nicht machen. Ich mache das nur in Beziehung zum Gegenüber.
Wie war das für Sie, als Sie diese Szene dann im Film gesehen haben?
Es ist für mich nicht einfach, das anzuschauen, weil das natürlich ein
ungeschützter Moment ist und man mich da in meiner Fehlbarkeit sieht. Ich
entschuldige mich danach ja auch dafür. Trotzdem finde ich diese Szene
essenziell für die Dokumentation. Es wäre natürlich souveräner gewesen, wenn
ich gesagt hätte: “Egal, ich spiele einfach weiter.” Der wichtigere Moment ist
aber, dass man über diesen Konflikt versteht, worum es bei Schauspielerei
eigentlich geht. Dass ich mich nicht auf der einen Seite öffnen kann und
verletzlich machen kann und eine Sensibilität für Atmosphären und meinen
Gegenüber entwickeln kann, und mich dann aber dem gegenüber dumpf mache, dass
jemand einfach weggeht.
Das ist auch der einzige Grund, warum ich Leute im Theater frage, wohin sie gehen, wenn sie aufstehen. Dann dauert es einen Moment, bis die Person überhaupt begreift, dass sie gemeint ist. Aber dann sagt sie: “Ich gehe aufs Klo.” Dann kann ich mich entscheiden, wie ich damit umgehe. Ob ich zum Beispiel sage: “OK, dann warten wir, bis Sie wiederkommen.” Ich finde es ganz wichtig, die Möglichkeit zu haben, das zu thematisieren.
Egal ob HBO-Serie oder Netflix-Film: Lars Eidinger hasst es, sich bei Premieren selbst zugucken zu müssen
Im Theater hat man natürlich die Möglichkeit, in die direkte Konfrontation mit dem Publikum zu gehen. Wie ist das denn bei Film- und Seriendrehs? Da gucken natürlich auch Leute zu, aber eigentlich macht man es in dem Moment für die Kamera.Da ist mir auch eine gewisse Konzentration wichtig, aber das heißt jetzt auch nicht zwingend, dass alle wie gebannt an meinen Lippen hängen müssen. Ich bin mir schon bewusst darüber, dass der Kameramann, die Kamerafrau sich mit der Kamera beschäftigt und der Gaffa-Mensch mit seinem Gewerk. Wenn ich sehe, dass da Leute plötzlich durch Instagram scrollen, kränkt mich das aber schon.
Die Schwierigkeit beim Film ist für mich aber tatsächlich, dass man für ein Publikum spielt, das in der Zukunft sitzt und das man nicht beeinflussen kann. Ich finde es oft auch schwer, in einer Filmpremiere zu sitzen und zu wissen: Der Film ist jetzt fertig. Ich erlebe, was nicht funktioniert beim Publikum und kann keinen Einfluss mehr darauf nehmen. Das ist teilweise schon schwer zu ertragen. Es hat oft eine albtraumhafte Qualität, sich im Kino selbst zuzuschauen.
Im Netflix-Film Weißes Rauschen spielte Lars Eidinger einen Dealer:
Aber nichtsdestotrotz drehen Sie ja auch Filme und Serien. Was macht Ihnen daran Spaß?
Um Spaß geht es mir gerade nicht. Eher darum, was der Unterschied ist zwischen verschiedenen Medien und dass Film im Grunde ein Memento Mori ist. Manche Begriffe, die beim Film auftauchen, finde ich dahingehend entlarvend. Dass man sagt “Die Szene ist gestorben”, wenn sie abgedreht ist. Das ist aber nichts, was ich per se ablehne. Ich finde zum Beispiel, dass Fotografie viel mehr mit dem Tod zu tun hat, als mit dem Leben. Trotzdem bin ich leidenschaftlicher Fotograf. Oft wird man sich ja erst in der Abwesenheit von etwas dessen Bedeutung bewusst.
Darin kann nämlich auch eine Schönheit liegen. Wenn ich bei Ihnen eingeladen bin und einen Strauß Blumen mitbringe, dann hat das eine gewisse Erotik, weil es etwas mit Vergänglichkeit zu tun hat und Sterben. Man weiß, dass diese Schnittblumen vielleicht drei, vier, fünf Tage schön aussehen, dann sind sie verwelkt. Die Topfpflanze kann auch schön sein, aber die hat eine ganz andere Ausstrahlung, weil sie den Anspruch erhebt, für die Zukunft Bestand zu haben.
Sie haben in einem Interview mal gesagt, dass internationale Kolleg:innen sie mehr von Ihren Theater-Performances kennen, als von Ihren Filmen. Gab es da von deren Seite aus Ihnen gegenüber Berührungsängste?
Wenn ich ehrlich bin, sind es viel mehr die deutschen Schauspielerinnen und Schauspieler, die Berührungsängste haben. Am Set des Films, den ich gerade drehe, kam ein Schauspieler zu mir. Der meinte, er hätte am Berliner Ensemble, wo er Theater spielt, erzählt, dass er mit mir dreht. Da hätten die Kolleg:innen dann gesagt: “Na, viel Spaß!” Dabei kannten die mich gar nicht, die haben nie mit mir gearbeitet. Er meinte, er könnte diese Vorbehalte, jetzt nach der Erfahrung mit mir, gar nicht nachvollziehen. Im Gegenteil.
Das ist wie ein Image, was einem anhaftet, wo man aber nie so richtig weiß, wo es herkommt. Da frage ich mich immer: Wie entsteht sowas?
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