Kinder des Olymp und die Sehnsucht nach einer besseren Zukunft

20.06.2017 - 08:50 UhrVor 7 Jahren aktualisiert
Garance steht im Zentrum von Kinder des OlympUFA/Universum
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Marcel Carnés zutiefst menschlicher Film Kinder des Olymp entstand während der Nazidiktatur in Frankreich. Seine Botschaft ist zeitlos, denn jeder Mensch ist in der Lage, sie zu verstehen.

Monatelang lag die DVD von Kinder des Olymp bei mir herum. Überall wo ich hinging, nahm ich sie mit. Irgendwann – hoffte ich – musste es soweit sein, dass ich mich nicht mehr gegen einen über dreistündigen Schwarz-Weiß-Film – restauriert zwar, aber trotzdem aus dem Jahr 1945 – in französischer Sprache mit englischen Untertiteln, wehren konnte.

Die Produzenten trotzten der nationalsozialistischen Besatzung

Seine Erschaffer arbeiteten während der Nazibesatzung in Frankreich beinahe unter konspirativen Bedingungen. Allein die Tatsache, dass sie einen historischen Kostümfilm zu der Zeit drehten, war absurd – inmitten der amerikanischen Invasion im Westen und des Vormarsches der Roten Armee im Osten. Seine Darsteller übten ihren Beruf, eine Absurdität in Zeiten eines Weltkrieges schon an sich, unter unvorstellbaren Bedingungen aus. Kamen und gingen hungrig, wussten nicht, ob sie morgen noch hier sein würden. Der Produktionsdesigner Alexandre Trauner war Jude, wurde versteckt gehalten und arbeitete heimlich an den Kulissen, für den Fall, dass Kollaborateure vorbeischauten.

Boulevard du Crime

Noch heute kann ich kaum fassen, wie überzeugend Trauners Sets in Kinder des Olymp sind. Ich schaffe es immer noch nicht, seine optischen Täuschungen zu entdecken, mit denen er mir vorgaukelt, dass ich gerade im Jahr 1830 am „Boulevard du Crime“ von Paris stehe. Zur Eröffnungsszene herrscht hier eine Atmosphäre wie auf dem Rummel, jeder versucht sich zu übertreffen, an jeder Ecke gibt es etwas zu sehen. In der dichten Masse drängen sich Männer im Bürgergewand, Bettler, Taschendiebe und leichte Frauen.

Charaktere, die von ihrer Sehnsucht getrieben werden

Ich treffe die mysteröse Garance und den Schauspieler Frédérick Lemaître. Später stellen sich noch der Unterweltboss Lacenaire und der Pantomime Baptiste vor. Lacenaire führt – so sagt er – einen Krieg gegen das Gesellschaftssystem. Er will Genugtuung für all die Demütigungen, die er als anscheinend homosexueller Mann in seiner Jugend ertragen musste. Garance geht auch nur der kleinsten persönlichen Bindung aus dem Weg, um sich ihr Gefühl von Freiheit zu bewahren. Wohingegen Baptiste nur an die eine wahre Liebe glaubt und davon überzeugt ist, sie in Garance gefunden zu haben. Lemaître wiederum gibt sich leichtfertig, locker, spielt mit seinem Geld und seinem Leben. Doch ist er von Beruf Schauspieler und verzweifelt an der Aufgabe, einmal die Eifersucht eines Othello auf der Bühne zu verkörpern. Für einen Mann, den menschliche Regungen wie Ärger, Neid oder Furcht allenfalls belustigen, ein scheinbar unerreichbares Ziel.

Garance und Baptiste

Als es Richtung Ende mit Kinder des Olymp geht, gehöre ich schon lange fest zum Leben dieser Figuren. Ich erlebe mit ihnen die Konsequenzen ihrer Entscheidungen. Als es in der Handlung zur Klimax kommt, stecke ich so tief im Geschehen, dass mich die überraschenden Wendungen der Schlussminuten genauso überraschen wie die Charaktere selbst. So sehr bin ich überwältigt von Lacenaires finalem Kriegsakt, von Frédéricks bitterem Eingeständnis, von Garances falschem Stolz und Baptistes letzter Verzweiflung, dass ich die Tragik des Endes erst fühle, als der kurze Abspann schon eine Weile vorbei ist und mich im DVD-Menü das Hauptmotiv der Filmmusik anplärrt.

Natürlich handelt es sich bei einem Film dieser Länge um eine Geschichte von epischem Ausmaß, erzählt über eine Spanne von sieben Jahren hinweg. Die vier Hauptfiguren durchlaufen in dieser Zeit verschiedene Phasen ihres Lebens. Ihre beruflichen ebenso wie ihre privaten Umstände verändern sich. Nebenfiguren kommen und gehen und hinterlassen Eindruck im Leben von Garance, Frédérick, Baptiste und Lacenaire. Zuzusehen, wie sich ihre Geschichte entwickelt, welche Entscheidungen sie treffen müssen und was für ein Schicksal sie erwartet, ist eine spannende Erfahrung. Die cleveren Dialoge liefern immer mehr Information über ihre Seelenzustände, als es auf der Oberfläche scheinen mag. Die Schauspieler geben den Figuren ihre eigentümliche Persönlichkeit. Wenn Arletty „la liberté“ in den Mund nimmt, dann kommen in ihrer Betonung alle Facetten zum Vorschein, die das Wort während Garances bewegtem Leben schon einmal angenommen hat.

Frédérick und Garance

Die besondere Leistung der Kollaboration von Drehbuchautor Jacques Prévert, Regisseur Marcel Carné und Produktionsdesigner Trauner liegt darin, eigenständige Helden geschaffen zu haben. Als Menschen sind sie auch in unserer Welt, außerhalb ihrer Geschichte, überlebensfähig und damit glaubhaft. Das ist zuerst einmal Préverts Dialogen geschuldet, die es vermögen, das Innenleben der einzelnen Figuren hervorzuholen. Carné baut um diese Dialoge eine sinnvolle Struktur, sodass sich jede Szene als Resultat aus dem zuvor Geschehenen ergibt ,während Trauner es schafft, historische Schauplätze wie den Boulevard du Crime wieder zum Leben zu erwecken.

Eine Nachricht an die Zukunft

Weil Kinder des Olymp so gut darin ist, eine glaubhafte Kulisse zu erschaffen und weil sich die Handlung aus den Sehnsüchten ihrer Charaktere ergibt, ist der Film weiterhin sehenswert. Für das heutige Publikum mögen die schwarz-weißen Bilder ungewohnt sein und das Schnitttempo vielleicht etwas zu langsam, um sofort mitzureißen. Allerdings sind spannende Charaktere und fantasievolle Welten zeitlos. Besonders, wenn die Fantasie nicht allein versucht, eine sorgenvolle Traumwelt zu erschaffen, sondern eine glaubhafte Umgebung konstruiert. Paris wirkt hier zweifellos an vielen Stellen schön, aber nicht weil der Film die Hässlichkeiten der Stadt auslässt. Die verschiedenen Persönlichkeiten wirken bei ihren Dialogen heiter, weil sie versuchen, ihren heimlichen Schmerz zu überdecken. Ihre Geschichte inspiriert Hoffnung, weil wir Zuschauer erfahren, dass ihr tragisches Ende unvermeidlich ist.

Nathalie und Baptiste

Vor allem fühlen sich ihre Sehnsüchte nach einer besseren Gesellschaft, nach persönlicher Freiheit, nach wahrer Liebe und menschlichem Mitgefühl vertraut an. Kinder des Olymp entstand während einer der dunkelsten Epochen in Europas jüngerer Geschichte, zu einem Zeitpunkt, als die Sehnsüchte dieser Figuren nur noch unwirklich erscheinen konnten. Das macht den Film zu einer Nachricht seiner Mitwirkenden an die zukünftigen Generationen. Sie soll uns für immer an das erinnern, was uns als Menschen im Kern verbindet.

Was hat euch an Kinder des Olymp berührt?

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