Ich, Alice in den Städten & liebenswerte Rotzgören

19.08.2011 - 08:50 Uhr
Yella Rottländer als Alice
WDR
Yella Rottländer als Alice
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Melancholie und Lebenslust – ein Widerspruch? Nicht in diesem Film: Wim Wenders Alice in den Städten ist ein Paradebeispiel für das Genre des Roadmovie und bekommt deswegen heute mein Herz für Klassiker.

Wenn ich nicht alle halbe Jahre aus Deutschland herauskomme, werde ich grantig. Reisen ist für mich existenziell, und mein absolut unangefochtener Traum ist es, einmal mit einem alten VW-Bus die komplette Panamericana abzufahren. Vielleicht ist das der Grund, wieso ich dieses Faible für Roadmovies habe. Mit Chi l’ha visto – Wo bist du kommt in dieser Woche ein moderner, halbdokumentarischer Roadmovie in die Kinos. Das Genre ist allerdings kein neues Phänomen. Bereits in den Siebzigern war es voll etabliert, und einem ganz besonderen Film möchte ich in diesem Zusammenhang heute mein Herz für Klassiker schenken: Alice in den Städten von Wim Wenders.

Warum ich Alice in den Städten mein Herz schenkte
Ich sah den Film das erste Mal während einer Vorlesungsreihe und vergaß dabei völlig, dass ich mich in einem Saal voller Studenten befand. Die Geschichte des antriebslosen Journalisten, der in den USA zufällig die Tochter einer Fremden aufgedrückt bekommt, die er anschließend durch das halbe Ruhrgebiet kutschiert, um ihre Großeltern zu suchen, nahm mich sofort gefangen. Der Film lebt mit und durch die Melancholie, die sich in jedem seiner Elemente widerspiegelt: die Polaroids, die Philip Winter (Rüdiger Vogler) ununterbrochen schießt, die ungewisse Zukunft der Protagonisten, die schwermütige Musik … der Film atmet praktisch Melancholie. Ach, ich steh auf Melancholie.

Warum auch andere Alice in den Städten lieben werden
Winter hat jeglichen Glauben verloren: Glauben an sich, seine journalistischen Fähigkeiten, die Menschheit im Allgemeinen; er wird mehr und mehr zum pessimistischen Misanthropen. Erst die sich langsam entwickelnde Freundschaft zur kleinen Alice (Yella Rottländer) lässt ihn wieder das Enthusiastische, das Vergnügte in sich erkennen. Unglaublich verkopftes Thema, könnte der voreingenommene Kritiker meinen, doch Wim Wenders Film erschlägt uns nicht, sondern schafft Bilder von bezaubernder Leichtigkeit, die trotzdem nie die Grundstimmung des Werkes stören: Im Flugzeug spielen Winter und Alice Galgenmännchen, und mit dem letzten falschen Buchstaben hängt das Männchen dann auch. Er nennt das Lösungswort: „Traum.“ „Solche Wörter gelten nicht“, antwortet Alice nüchtern, „nur Sachen, die es wirklich gibt.“

Warum Alice in den Städten einzigartig ist
Selten war ich in einem Film so hin- und hergerissen zwischen Anti- oder Sympathie für ein Kind. Wenn Alice auf einer Flughafentoilette sitzt, von ihrer Mutter verlassen, unterwegs mit einem noch fremden Mann, ohne richtiges Zuhause, und herzzerreißend weint, weil sie nicht weiß, wie es weitergehen soll – dann könnte ich fast mit ihr weinen. Aber wenn sie dann ein paar Stunden später ewig nörgelnd durch die Stadt rennt und sich mit dem einzig bezahlbaren Restaurant noch immer nicht zufrieden gibt – dann, ja dann kann ich Winters Menschenhass durchaus nachvollziehen.

Warum Alice in den Städten die Jahrzehnte überdauert
Die Zeitlosigkeit des Films liegt wohl schon in seinem Genre begründet. Der Roadmovie steht in Assoziation mit der Suche nach Identität, nach Freiheit. Mit dem Gefühl, seinen Platz in der Welt noch nicht gefunden zu haben. In Alice in den Städten sehen wir die Personifizierung dessen. Einerseits das Kind, das seine Familie sucht, ganz am Anfang seiner persönlichen Entwicklung steht und seine größten Herausforderungen noch vor sich hat. Auf der anderen Seite der unzufriedene Journalist, der Freigeist, der melancholische Künstlertyp. Er wird trotz großer Anstrengungen wahrscheinlich nie in seinem Leben zu vollen hundert Prozent irgendwo ankommen, das liegt in seiner Natur. Und auch wir Zuschauer, so sehr wir vielleicht auch Durchschnittsmenschen sein mögen, tragen diese Tendenz in uns: die Suche nach dem Besseren, nach einem Zuhause, nach Vollständigkeit, in welcher Form auch immer. Wir alle fühlen uns wohl manchmal wie die kleine Alice in den Städten.

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