Hitchcock, Naturfilm und Gay Porn? Großes Kino!

26.10.2013 - 08:50 UhrVor 10 Jahren aktualisiert
Kompromissloses Kino aus Frankreich
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Kompromissloses Kino aus Frankreich
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Der Fremde am See hat dieses Jahr in Cannes den Regiepreis gewonnen, ist laut unserem Kommentar der Woche voller aufgewühlter Innenwelten, erzählt in seiner Natürlichkeit viel über den modernen Menschen und ist unbedingt ‘Un Certain Regard’ wert.

Im Kommentar der Woche versuchen wir jede Woche einen eurer zahlreichen Kommentare zu feiern, egal ob kurz oder ausführlich, alt oder neu, zu einer Person, einem Film, einer Serie oder einer News – die Voraussetzungen für den Kommentar der Woche kann theoretisch jeder Kommentar erfüllen. Wenn ihr über einen gestolpert seid, der euch besonders gut gefallen hat, schlagt ihn uns vor, am besten per Nachricht.

Der Kommentar der Woche
Der Fremde am See von Alain Guiraudie veranlasste Sigmund im Kinosaal beinahe zu lautstarkem Jubel, und ich habe nach seinem Kommentar nun auch richtig Lust bekommen mir den Film anzusehen:

Manchmal dauert es Jahre und viele hundert vergebliche Versuche, bis man eine filmische Perle findet wie diese. Kein Film der 10er Jahre konnte mich bisher so sehr begeistern wie L’INCONNU DU LAC, der in Cannes 2013 den Regiepreis der Reihe Un Certain Regard und die Queer Palme bekam.

Zwar bin ich nicht schwul, aber der Film wäre nicht das was er ist, wenn er im Kern nicht von universellen Dingen handelte. Auf ein einziges Setting beschränkt – einem Badestrand am See und dem Wald dahinter – gelingt es Regisseur Guiraudie anhand von drei tragenden Charakteren Wesentliches über den modernen Menschen zu erzählen.

Im Zentrum stehen der hübsche, gutmütige Franck, der dickliche, etwas verzagte Henri und der virile, undurchsichtige Michel. Alle drei werden von ihren bislang unbekannten Darstellern mit einer so faszinierend selbstverständlichen Natürlichkeit gespielt, wie sie beispielsweise im Hollywoodkino meines Wissens bis heute noch nicht vorgekommen ist.

Trotzdem zerfasert der Film nie in dokumentarischer Anmutung, im Gegenteil: Bei aller Natürlichkeit ist er aufs Kunstvollste verdichtet und erzählt hochkonzentriert von einem spannenden Widerspruch. Auf der einen Seite ist da die fast unbeweglich ruhige Außenwirkung der Protagonisten, eben jene Gelassenheit und Souveränität, die so gut wie jeder Mensch – mehr als noch vor wenigen Jahrzehnten – bemüht ist durchweg vorzugeben. Auf der anderen Seite steht dazu im maximalen Kontrast die innere Bewegtheit, die archaischen Emotionen und das Züngeln einer Urkraft und unabwendbaren Leidenschaft, die dennoch in jedem lodert – obwohl sie nur in ganz wenigen, meist sorgsam kaschierten Momenten je nach außen dringt.

Wie brillant der Film diese äußere Scheinruhe in gemächliche Strandtotalen fasst, um sie dann mit aufgewühlten Innenwelten zu kontrastieren, hätte den Autor dieser Zeilen im Kinosaal beinahe zu lautstarkem Jubel veranlasst.

Auch die Charaktere selbst beobachten einander unablässig und ziehen immer wieder falsche oder arg verkürzte Schlüsse aus den kargen Bildern, die ihnen am Strand zur Einschätzung der Lage genügen müssen. Welch großartiges Gleichnis auf die Beschränktheit des Sichtbaren – gespiegelt in der riesigen, oft aber unsichtbaren Welt auch der stärksten Empfindungen!

Wahrscheinlich stimmt es, dass der Mensch sich weniger auf das verlassen kann was er sieht oder hört, als auf das was er spürt – immer vorausgesetzt, man hat die feinen Antennen der atmosphärischen Wahrnehmung noch nicht um gewisser Selbstlügen willen abgeknickt. Aber selbst dann wird uns wohl oder übel ein Großteil dessen verborgen bleiben was jeder Mensch, wenn er es will, in sich verschließen kann – und sei es auch nur aus der alten Angst, sich verletzbar zu machen.

Für mich steckt in L’INCONNU DU LAC all das, was Kino zu seiner vollen Größe und Schönheit erheben kann. Einige der Wahrheiten, die sich hinter seinen Bildern verbergen, sind zwar nicht gerade bequem, aber nur ganz selten ist ein Film so wuchtig, erhellend und kompromisslos ehrlich wie dieser hier.

Den Kommentar findet ihr übrigens hier.

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