Diebstahl gehört zu den schönsten Nebensachen des Kinos. Dafür benötigt man nicht einmal aufwendige Action-Szenen à la "Dom Toretto fährt mit einem ganzen Safe quer durch Rio de Janeiro". Das Schöne am Genre des Heist-Films ist es vielmehr, anderen beim Schuften zuzuschauen. In Filmen wie Rififi, Vier im roten Kreis, Thief - Der Einzelgänger oder zuletzt Verbrannte Erde beobachten wir Leute, die ihren Job verdammt gut machen. Natürlich läuft zwischen Planung, Diebstahl und Flucht etwas schief, aber daran hat in der Regel die göttliche Ungerechtigkeit der Filmdramaturgie schuld, weniger das Skillset der Helden.
Im großartigen neuen Heist-Film The Mastermind sieht das anders aus. Das späte Highlight im Wettbewerb von Cannes 2025 verfolgt, wie Familienvater Josh O'Connor (Challengers - Rivalen) einen nicht sonderlich genialen Kunstraub durchzieht. In einer Welt der Criminal Squads und Cash Trucks, in der das amerikanische Heist-Kino fest in den Händen kerniger Gerard Butlers und Jason Stathams liegt, gelingt Kelly Reichardts neuem Film ein echter Befreiungsschlag.
Challengers-Star Josh O'Connor klaut in The Mastermind vier Gemälde
The Mastermind – das ist ein ironischer und doch wahrhaftiger Titel für den neuen Film der Regisseurin und Autorin Kelly Reichardt (First Cow). Angesiedelt ist er in den 1970er Jahren. Richard Nixon regiert, über den Fernseher flimmern Bilder aus dem Vietnamkrieg. Familienvater J.B. (Josh O'Connor) lebt mit seiner Ehefrau (Alana Haim) und den beiden aufgeweckten Söhnen in einer Kleinstadt in Massachusetts. Ihre Freizeit verbringen sie im örtlichen Kunstmuseum und bei J.B.s Eltern (Bill Camp und Hope Davis), die sich mehr von den Ambitionen ihres Sohnes erwartet haben, als dass er als arbeitsloser Schreiner zu Hause sitzt.
Was weder Ehefrau noch Eltern wissen: Bei den Besuchen in dem verschlafenen Museum späht J.B. die Sicherheitsmaßnahmen aus. Er hat den Grundriss einzelner Räume notiert. Er hat einen komplexen Plan mit mehreren Helfershelfern und gestohlenen Fluchtautos ausgeheckt und sogar die Gemälde in süßen kleinen Zeichnungen kopiert, damit sich seine Diebesbande alle korrekt einprägt.
J.B. ist das Mastermind mit dem Masterplan – glaubt er zumindest. Denn der Raub geht mit so vielen Stolpersteinen über die Bühne, dass er sich in den Händen von Regisseurin Kelly Reichardt in eine Art Comedy-Sketch verwandelt. Wenn die Diebe mit Damenstrumpfhosen über dem Kopf von Schulmädchen beim Diebstahl abstrakter Gemälde überrascht werden, zeigt sich Reichardt von ihrer lustigsten Seite. Die beste Pointe: Der Heist funktioniert. Dann beginnt allerdings der Teil des Genres, an dem sich selbst die smartesten Hollywood-Helden die Zähne ausbeißen. Smart ist nicht das Wort, das einem beim Anblick von J.B. in den Sinn kommt.
Dass Josh O'Connor diesen J.B. spielt, sollte ein Warnzeichen darstellen für alle, die wegen des jazzigen Trompeten-Scores von Rob Mazurek einen konventionellen Heist-Film erwarten. Der Brite hat sich mit Challengers und La Chimera zum Meister des Scheiterns im Kino gemausert. Seine zerknautschten Loser besitzen weder ein Herz aus Gold noch einen bewundernswerten Underdog-Status. Meist tragen sie selbst an ihrer Situation die Schuld und tun alles, um sie zu verschlimmbessern. Das Mastermind gehört auch zu diesem Menschenschlag.
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Verdient der Größenwahnsinnige unseren Respekt?
J.B.s Spitzname erinnert an den geheimnisvollen D.B. Cooper, der 1971 ein Flugzeug entführte und mit 200.000 Dollar in den Lüften auf Nimmerwiedersehen verschwand. In The Mastermind inszeniert O'Connors Familienvater seine Version solch eines kriminellen Paukenschlags, wie man ihn sonst nur aus Zeitungen oder dem Kino kennt. Dabei kommen dem Film zweierlei Dinge zugute. Kelly Reichardt richtet nicht über ihre Figuren und sie geht The Mastermind wie einen richtigen Heist-Thriller an.
Im Grunde sehen wir hier einem Mann zu, der zugunsten seines eigenen Größenwahns seine Familie im Stich lässt und im Verlauf des Films die Bodenlosigkeit seines Gewissens erforscht, um seinen Hals zu retten. Andererseits ringt einem J.B. trotz seiner vielen (und es sind viele) Fehler einen gewissen Respekt an, wenn er von den vorgeschriebenen Bahnen seines Lebens ohne Rücksicht auf Verluste abbiegt. Sein alter Kumpel Fred (John Magaro), der J.B. Unterschlupf gewährt, schaut ihn genau mit diesem respektvollen Funkeln im Auge an.
Reichardt lässt die Widersprüche ihres Antihelden nebeneinander existieren, was ihrem Film eine bemerkenswerte Offenheit verleiht. Es passt überdies zu den Helden der New Hollywood-Ära, die in diesen Jahren in Taxi Driver, Easy Rider und anderen ihre persönlichen Ausbruchsversuche aus dem hermetischen Alltag der Nixon- und Vietnam-Ära planten.
The Mastermind ist auch ein großartiger Heist-Film
Die größte Freude in The Mastermind bereitet aber Kelly Reichardts Auge für die Mechanismen des Heist-Thrillers. Das Genre lebt zuvorderst von Geduld und nicht Maschinengewehrsalven. Sein Spektakel besteht aus der Durchführung von Plänen. Es ist das Gefühl von absoluter Konzentration, wenn Ryan Goslings Fluchtfahrer zu Beginn von Drive sein Gefährt durch die Seitenstraßen von Los Angeles lenkt, als würde er jedes Stück Staub auf dem Asphalt beim Namen kennen. J.B. erreicht dieses Level an Perfektion natürlich nicht. Er ist nur ein Dad irgendwo in Massachusetts, obwohl er sich benimmt, als sei er der nächste Thomas Crown.
Die Kamera von Christopher Blauvelt (The Bling Ring) beobachtet ihn trotzdem mit derselben Genauigkeit wie einen Meisterdieb, als er mühselig eine klapprige Leiter hochklettert, um vier sperrige Gemälde in einem Holzkasten auf einem Heuboden zu verstecken. Statt perfekter Konzentration entwickelt J.B.s persönliches Heist-Abenteuer eine absurde Komik. Wir schauen einem Sisyphus zu, der sich für einen viel zu großen Stein entschieden hat. Dank Kelly Reichardt können wir selbst entscheiden, ob wir nur über ihn lachen oder vielleicht doch eine kleine Träne für J.B.s Befreiungsversuch vergießen.
Wir haben The Mastermind beim Filmfestival in Cannes gesehen, wo er im Wettbewerb um die Goldene Palme läuft. Einen deutschen Kinostart gibt es noch nicht, aber Mubi hat hierzulande die Rechte für The Mastermind erworben.