Fargo und die Seele Amerikas

18.01.2012 - 08:50 Uhr
Steve Buscemi in Fargo
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Steve Buscemi in Fargo
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In vielen Filmen steckt mehr, als sich womöglich auf den ersten Blick erschließt. Moviepilot-User eipi erläutert in seinem Text, dass dies auch auf Fargo von Joel und Ethan Coen zutrifft.

Große Kunst ist, auch wenn sie stets im Kontext ihrer Entstehungsära betrachtet werden muss, auf eine gewisse Weise zeitlos. Sie gewährt universelle Einblicke in die menschliche Existenz, die gesellschaftliche Veränderungen überdauern und auch lange nach ihrer Hochzeit kann sie wichtige Denkanstöße geben. Und so lohnt es sich, in Zeiten eines zutiefst gespaltenen Amerikas, auf Fargo, diese großartige Symphonie aus Gier und Dummheit, einen erneuten Blick zu werfen.

Für viele stellt Fargo den besten Film der neunziger Jahre dar, einem Jahrzehnt, in dem Quentin Tarantino mit Pulp Fiction das Kino verändern sollte und mit Jurassic Park der unaufhaltsame Siegeszug des CGI begann (der inzwischen weit über den Abgrund hinaus geführt hat). Dies ist insofern bemerkenswert, als dass die Geschichte von Fargo aufs Wesentliche reduziert quasi eine deutsche Tatortepisode sein könnte. Bei näherer Betrachtung und vor allem mehrmaligen Ansehen kommt man jedoch zu der Erkenntnis, dass den Coens mit Fargo nicht weniger gelungen ist, als die amerikanische Seele komplett zu sezieren und ihren verrotteten Kern ans Tageslicht zu bringen.

Ein tiefer Graben durchzieht derzeit die USA; auf der einen Seite findet sich die Occupy-Bewegung mit ihrer Kritik am Raubtierkapitalismus und auf der anderen ein Konglomerat aus Konzernen und Banken (sowie die für deren Zwecke eingespannte Tea Party Bewegung). Die Hauptkritik der Wall-Street-Protestierenden besteht in der Abkehr von alten amerikanischen Traditionen, im Verrat am fleißigen Arbeiter und den kleinen und mittleren Unternehmen. Denn obwohl die Republikaner selbige immer als ihre besonderen Schützlinge propagierten, waren es doch die Superreichen, denen ihre Gefolgschaft galt. Es ist eine Kritik an der Gier, die sich heute dort abzeichnet, denn im christlichen Amerika hat jene Todsünde inzwischen den amerikanischen Traum pervertiert. Und diesen Gegensatz vom alten (und natürlich auch verklärt romantischen) Amerika und dem neuen, von Ronald Reagan in den Achtzigern eingeleiteten und dem grenzenlosen Aufstieg verpflichteten, zeigt Fargo mit beispielloser Kunstfertigkeit.

Die Figur, die den Film letztendlich vorm allzu pessimistischen Fatalismus rettet, ist Marge Gunderson. Die Polizistin, die versucht die Vorfälle rund um eine Entführung aufzuklären und sich dabei mit einem immer größer werdenden Leichenberg herumschlagen muss, ist die Güte in Person. Sie wirkt zwar hinterwäldlerisch naiv, doch ist dies allein ihrer Freundlichkeit geschuldet, die man zunächst mit Dummheit verwechselen mag. Selbst ihrem völlig unfähigen Polizeipartner erklärt sie mit freundlicher Zurückhaltung, weswegen seine Theorien zu den Morden nicht unbedingt Sinn ergeben. Dennoch ist sie scharfsinnig genug, die richtigen Schlüsse zu ziehen und den Fall zu lösen. Zusammen mit ihrem Mann, einem bodenständigen Künstler, dessen größte Leistung darin besteht, ein Motiv für eine Briefmarke beizusteuern, erden sie den Film. Sie verkörpern das alte Amerika: Ein zufriedenes Paar mit einfachen Jobs und einem Kind auf dem Weg.

Dem gegenüber stehen die beiden Gangster, Carl Showalter und Gaear Grimsrud, die von Jerry Lundegaard angeheuert werden, dessen eigene Frau zu entführen, um Lösegeld von seinem reichen Schwiegervater zu erpressen. Jerry ist es in dem sich die Folgen der Gier am deutlichsten zeigt. Er lebt als Gebrauchtwagenhändler mit einer Frau und einem Sohn in einem gemütlichen Heim, will jedoch unbedingt die Erfolgsleiter noch einige Sprossen höher klettern. Das wirklich Groteske ist, dass er das Lösegeld nicht will, um sich nach Hawaii abzusetzen oder irgendwo anders ein neues Leben anzufangen. Er braucht es als Investitionssumme für ein Geschäft. Er ist so verblendet von der Idee, zu Höherem bestimmt sein, dass er für seinen Traum ein wohlhabender Geschäftsmann zu werden, das Leben seiner eigenen Frau in Gefahr bringt. Dass diese harmlos trottelige Frau alsbald unter die Räder der Ereignisse, die durch Jerrys Flirt mit der Maßlosigkeit ausgelöst wurden, kommt, ist nur konsequent. Denn wenn Menschen aus Gier beginnen über Leichen zu gehen, müssen die Naiven immer zu erst dran glauben.

Wenn am Ende dann genug Menschen gestorben sind, es keine Gewinner gibt und das Geld, um das alle so eifrig gerungen haben, einsam unter einer Schneewehe mitten im Nirgendwo vergraben liegt, fragt Marge auf fast schon kindliche Art den überlebenden Killer: „And for what? For a little bit of money. There’s more to life than a little money, don’t you know that?“ Es sind die einfachen Worte, einer einfachen Frau und doch stecken sie voll tiefer Wahrheit. Es gibt wichtigeres als Geld, und ja eigentlich weiß das jeder und dennoch sollte man sich anschauen, wohin einen das Streben danach treiben kann, wohin es eine ganze Nation getrieben hat.

So entblättert sich Schicht um Schicht dieses Films, der als teilweise brüllend komische Kleinstadtgroteske daherkommt und am Ende doch tiefe Einblicke in das amerikanische Wesen gewährt. Die gesamte Handlung spielt im schneebedeckten Minnesota, im Mittelwesten, dem „Heart of America“, wie es so gern beschworen wird. Und tatsächlich finden sich hier, mitten zwischen den verschrobenen Hinterwäldlern und meterhohen Schneewehen, schon alle paradoxen Gegensätze Amerikas, die Jahre später, weit entfernt an der Ostküste, in den Häuserschluchten der Wall Street lautstark aufeinander prallen. Die Coen-Brüder haben die USA verstanden wie kaum ein Regisseur vor ihnen und eine Dekade später warfen sie mit No Country for Old Men erneut einen Blick auf das langsam verwahrlosende Land. Dort gibt es jedoch keine lebensbejahende Optimistin, nur einen alten, müden Sheriff, der am Ende die Segel streicht. Zwischen beiden Filmen lagen gut zehn Jahre in denen genug passiert ist, dass die Coens vielleicht aufgehört haben, an ein Happy End für Amerika zu glauben.


Vorschau: Für nächste Woche haben wir leider noch keinen Text. Wer also uns und allen moviepiloten etwas sagen will – nur zu!!!


Dieser Text stammt von unserem User eipi. Wenn ihr die Moviepilot Speakers’ Corner auch nutzen möchtet, dann werft zuerst einen kurzen Blick auf die Regeln und schickt anschließend euren Text an ines[@]moviepilot.de

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