Gestern Nacht sah ich den wohl intensivsten Film, den ich je zu Gesicht bekommen habe. Heute merke ich, warum Moviepilot in solchen Fällen eine Hilfe sein kann. Das Schreiben eines Kommentars hilft es das Gesehene auch für sich selbst nochmal zu sortieren, seinen Emotionen auf den Grund zu gehen und um wie in dem vorliegenden Fall mit dem Trauma des in den letzten Stunden Erlebten fertig werden zu können.
Das Problem an der ganzen Sache: „Everywhere at the end of time“ existiert auf Moviepilot nicht. Nicht weil Moviepilot doof ist, sondern weil streng genommen dieser Film gar keiner ist. Das Vorliegende Kunstwerk behauptet zumindest ein Musikalbum zu sein, aber so ganz traue ich dieser Maskerade nicht. Denn dieses „Album“ hat nicht nur die Fähigkeit im Kopf des Hörers unglaublich intensive Bilder zu erschaffen, sondern lädt den Konsumenten ein, gleich die Hauptrolle des Films zu übernehmen.
Das vorliegende Kunstwerk ist für das intensivste Erlebnis verantwortlich, das ich je auf meiner Couch hatte. Es ist ein Mindfuck neben dem selbst David Lynch in seinen verwirrendsten Momenten wie nette nachmittägliche Unterhaltung wirkt. Ich wusste schon immer, dass Musik eine unglaubliche Wirkung auf einen haben kann, aber dass DAS möglich ist, hätte ich mir nie träumen lassen.
Um es klar zu machen, dieser Film ist nur für Leute gedacht, die auch bei einem „Satanstango“ in Ekstase geraten. Ähnlich wie bei jenem Monolith handelt es sich beim Magnus Opus des Britischen Künstlers Leyland James Kirby um eines dieser Werke, die den Konsumenten an seine eigenen physischen und psychischen Grenzen bringt, das aber gleichzeitig dafür sorgt, dass man wie bei „Satanstango“ das Medium Film danach aus einer völlig neuen Perspektive betrachtet, und in diesem Fall eben Musik nie wieder so hören wird wie vorher. Es sei explizit erwähnt, dass die 6,5 Stunden unbedingt am Stück gehört werden müssen, egal wie kaputt einen das macht. Eine Unterbrechung nach gut 3 Stunden wie ich sie leider vorgenommen habe (eigentlich wollte ich „nur kurz mal reinhören“), hat dafür gesorgt, dass am zweiten Abend sehr viel von der eigentlichen Erfahrung verloren ging.
Dieses ambitionierte Projekt entstand in einem Zeitraum von 4 Jahren. Ziel war es musikalisch die 6 Stadien von Demenz so darzustellen, dass der Hörer sich nicht nur über den Zerfall des Gedächtnisses Gedanken macht, sondern diesen Prozess bitter am eigenen Leib zu spüren bekommt.
Wir beginnen unsere Reise mit der ersten Phase, bei der einem das Problem noch gar nicht bewusst ist. Wir hören sehr alte Ballraummusik, die Fans von Kubricks Shining eventuell bekannt vorkommen könnte. Nichts außergewöhnliches. Schön und entspannend. Dass irgendetwas nicht stimmt, ignorieren wir gekonnt und schwelgen in Erinnerungen. Erst im Verlauf des Werkes wird dem Zuhörer bewusst, dass wir diese Lieder in den ersten 40 Minuten nicht wirklich hören. Es sind unsere Erinnerungen.
Danach beginnt ohne dass wir es wirklich mitbekommen die nächste Phase. Die Übergänge zwischen den einzelnen Phasen sind hier grundsätzlich fließend. Die Musik an die wir uns erinnern klingt immer noch schön in unserem Kopf, aber aus irgendwelchen Gründen macht sich ein äußerst ungutes Gefühl breit. Gefühle von tiefer Trauer werden unterbrochen von kurzen Momenten von Verwirrung. Uns wird langsam bewusst, das irgendetwas nicht stimmt. Wir wissen noch nicht wirklich was das Problem ist. Vielleicht bilden wir es uns auch nur ein. Doch eines ist klar. Unsere Stimmung ist weit unten.
Erst in Phase 3, können wir nicht mehr ignorieren was mit uns los ist. Wir haben zwar noch durchgängige Erinnerungen, diese werden aber immer wieder von Momenten der Verwirrung unterbrochen, in denen die Musik keinen Sinn mehr ergibt, sich dabei in etwas völlig absurdem verwandelt. Wir bekommen es mit der Angst zu tun. Vor allem als Zuhörer auf der Couch, denn als solcher wissen wir ja, welche Phasen noch vor uns liegen. Die Angst vor der Angst macht sich breit.
Phase 4 dürfte dann diejenige sein, die mich als Zuhörer gebrochen hat. Wurden davor unsere Erinnerungen immer wieder von Verwirrung unterbrochen, befinden wir uns nun in einem verwirrten Grundzustand, in dem immer wieder nur sporadisch Erinnerungsfetzen auftauchen, die irgendwie aber auch keinen Sinn mehr ergeben. Es gelingt uns kaum noch etwas zuzuordnen. Angst macht sich breit. Richtige panische Angst. Als Zuhörer sind wir völlig überfordert, greifen instinktiv nach der Fernbedienung, können uns aber einfach nicht durchdringen das ganze auszuschalten, denn zu faszinierend ist diese Reise, von der wir unbedingt erleben wollen, wie sie weiter geht.
In der vorletzten Phase ergibt wirklich gar nichts mehr Sinn. Alles was an Erinnerungen übrig geblieben ist, sind Fragmente die in ganz seltenen Momenten aufflackern, mit denen wir aber nichts mehr anfangen können. Die Angst ist nicht mehr ganz so stark, denn wir haben uns an diesen Zustand gewöhnt. Wir sind aber erschöpft, können nicht mehr. Wollen nicht mehr. Wir sind in unserer Welt völlig vereinsamt. Manchmal hören wir Stimmen, diesen können wir aber auch keine Bedeutung zuordnen.
Vor der finalen Phase hatte ich besonders große Angst, sie erwies sich aber als Erlösung. Unsere Erinnerungen sind komplett verschwunden, es herrscht nur noch Leere. Eine Leere die zwar von tiefster Trauer ist, die uns in einen abyssalen Abgrund zieht, die aber eben auch eine Erlösung von den vorherigen Qualen ist. Wir haben aufgehört zu kämpfen, haben verloren. Die Welt wie wir sie kannten löst sich langsam auf, ohne dass wir uns an das Konzept von „Welt“ überhaupt erinnern können. Eine letzte Erinnerung. Stille.
„Everywhere at the end of time” gelingt das Kunststück nicht nur auf dem Papier nach einem interessanten Konzept zu klingen. Der Zerfall der Musik symbolisiert nicht einfach nur den Verfall des Geistes, sondern manipuliert den Zuhörer.
Jemand hat auf YouTube kommentiert: „There is just an unspoken bond between everybody here”. Wer einmal dieses Werk am Stück auf sich hat wirken lassen, wird verstehen was damit gemeint ist. Es tut weh, es verwirrt, es macht Angst. Es öffnet einem aber auch die Augen, denn es zwingt einen sich 6,5 Stunden mit einer der furchtbarsten Erkrankungen auseinanderzusetzen, die wir kennen. Danach ist nichts mehr wie vorher, und wir blicken mit etwas mehr Dankbarkeit auf unser eigentlich schönes Leben.