Ein 8-Stunden-Film oder warum Serien nicht das neue Kino sind

19.02.2016 - 10:00 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
Berlinale: A Lullaby to the Sorrowful Mystery
Bradley Liew
Berlinale: A Lullaby to the Sorrowful Mystery
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Mit dem achtstündigen A Lullaby to the Sorrowful Mystery legt Lav Diaz einen seiner mittellangen Filme im Wettbewerb der Berlinale 2016 vor. Es ist eine sonderbare Erfahrung, wie sie nur das Kino bietet.

"Ist der Film gut oder ist er eine Zumutung?" Während die Zuschauer nach vier Stunden von A Lullaby to the Sorrowful Mystery in die Pause und an die frische Luft drängten, flirrte diese Frage einer TV-Reporterin durch die Menge im Berlinale Palast. Die Antwort eines für seine Bissigkeit bekannten Kritikers folgte prompt (in etwa "Dummheit ist eine Zumutung"). Nach einer Stunde Pause jedenfalls füllte sich der Saal wieder erstaunlich gut. Beim Abspann vernahm ich keinen einzigen Buhruf, dafür reichlich Applaus. Sind also acht Stunden Laufzeit eines Spielfilms eine Zumutung? Sind wir solche Marathon-Sitzungen in der Binge-Kultur, in der Serien dem Kino angeblich den Rang ablaufen, nicht gewohnt? Nachdem ich sieben Episoden von Marvel's Jessica Jones für die Arbeit am Stück geschaut habe, war leider kein Kamera-Team zugegen, um diese Frage zu stellen. Nun könnte ein Film des philippinischen Regisseurs Lav Diaz kaum weiter entfernt sein von Marvel-Abenteuern. Lassen wir uns gemeinsam für ein paar Minütchen auf den abwegigen Vergleich ein.

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Zumutung? Nein. Gut? Vielleicht. Rund drei Stunden nach dem Ende von A Lullaby to the Sorrowful Mystery, der im ganzen 485 Minuten plus 60 Minuten Pause zählte, mag ich mir kein finales Urteil zutrauen. Sofern Urteile über Filme überhaupt final sein können. Wie die anderen Werke von Lav Diaz auch erzählt das "Wiegenlied" von der philippinischen Geschichte und Gesellschaft. Am 30. Dezember 1896 wird der Schriftsteller und Nationalheld José Rizal durch die spanischen Kolonialherrscher hingerichtet. In den Monaten danach frisst sich die Revolution der Filipinos selbst. Für Diaz gerät der Moment der gewaltsamen Selbstreinigung nach einer schlaffen zweistündigen Einführung zum kreativen Energiestoß. Drei Frauen suchen in den vom Dschungel zugewucherten Bergen den Revolutionär Andrés Bonifacio, in der Befürchtung, dass er ermordet wurde. Heute gelten Bonifacios Gebeine als verschwunden. In Lullaby machen sich also teils fiktive Figuren aus einem Roman von José Rizal daran, den Tod einer realen Ikone des Landes zu bestätigen und im übertragenen Sinne einen Schlussstrich unter ein Kapitel der Gewalt in der philippinischen Historie zu ziehen. Auf dem Weg treffen sie übrigens auch drei Zauberer.

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Hinzu kommen mit Isagani und Simoun zwei Figuren aus José Rizals Romanen Noli me tangere und El filibusterismo, welche ebenfalls vom realen Tumult der Revolution in die Wälder getrieben werden. Eine grobe Kenntnis der Werke dürfte also gerade in der siebten und achten Stunde von A Lullaby to the Sorrowful Mystery das Verständnis so manchen Dialogs befördern. Ein kryptisches Werk ausschließlich für eine in der philippinischen Kultur versierte kleine Filmelite ist Lullaby allerdings nicht geworden. Diaz hat per se einen zugänglichen Film gedreht, schon allein weil die langen, handlungsarmen Einstellungen regelrecht dazu auffordern, sie zu durchforschen. In wunderschön durchleuchteten Schwarz-Weiß-Bildern zum Einrahmen schleppen sich Kämpfer von Farn zu Farn, schmiedet ein diabolischer Kapitän-General im Mondlicht Pläne oder trauern Frauen über den Körpern Gefallener. Was Lullaby die acht Stunden Laufzeit verpasst, ist deswegen weniger die Komplexität der Handlung, sondern vielmehr die Art und Weise, wie jede einzelne Handlung in aller Ausführlichkeit eingefangen wird. Weshalb acht Stunden mit Lav Diaz eben doch eine vollkommen andere Erfahrung ergeben, als acht Stunden mit einer Marvel-Heldin, einem Meth-Koch oder einer dänischen Premierministerin. Letztere wurden schließlich innerhalb eines auf ökonomische Effizienz ausgerichteten Produktionsprozesses kreiert.

A Lullaby to the Sorrowful Mystery

Fernseh- oder VoD-Serien bleiben 16 Jahre nach dem Beginn des Goldenen Serienzeitalters Erzählmaschinen, egal wie ausgeklügelt, selbstreflexiv oder schlicht stylish die Inszenierung mittlerweile gerät. Das liegt nicht zuletzt im eingebauten Countdown begründet, der nach jedem Episodenende von neuem anzählt. Serien wie beispielsweise Top Of The Lake, Mad Men oder Hannibal wissen ihre audiovisuellen Aspekte über deren bloße erzählerische Motivation hinaus zu nutzen. Doch eine Staffel Mad Men ohne Schuss-Gegenschuss-Aufnahme beim Dialog - das käme wohl einer ästhetischen Revolution im US-Fernsehen gleich. In A Lullaby to the Sorrowful Mystery fängt Kameramann Larry Manda ganze Szenen ohne Mithilfe eines Schnitts ein. "Erzählt" kann natürlich trotzdem werden. Wenn die Figuren nicht gerade in einer erdrückenden Dschungelwand zu verschwinden drohen, werden sie geschickt im verfügbaren Raum angeordnet. Da kündigt sich eine Gefahr im Hintergrund an, werden Allianzen durch die Gruppierung im Bild herauskristallisiert. Klassisches Filmhandwerk ist das, was bei Lav Diaz eben ins Extreme gedehnt oder von auffälligen erzählerischen Impulsen befreit wird. Schnitte sind hier vor allem dazu da, um Orte, Zeiten oder Geisteswelten zu überwinden: Im "unmarkierten" Flashback wird eine Mutter mit ihren Söhnen neben einem trockenen Reisfeld gezeigt. Danach kriecht sie auf allen Vieren durch den Schlamm eines bewässerten Feldes und wandert in der nächsten Szene wie gewohnt neben ihren Begleiterinnen durch den Wald.

Als Serie ist Diaz' antiklimaktisches Epos ganz unabhängig von den Produktionsumständen nicht denkbar. Die zu erwartende und zurückgelegte Länge, das Versenken über Hunderte Minuten hinweg treibt die Erfahrung mehr an, als die Erzählung es vermag. Lullaby schauen heißt 8 Stunden investieren, den Festivaltag statt mit vier, nur mit einem Film füllen. Es heißt zu entsagen und sich einzulassen. Bei einem schon nach vier Stunden "unerträglichen" Erlebnis würde diese Investition entweder von einem ausgesprochenen Masochismus zeugen oder den alltäglichen Leiden eines professionellen Filmkritikers, dem dieser Film eben zugewiesen wurde. Autor und Regisseur Lav Diaz nimmt die Natur seiner Arbeiten als Durchhaltetest anscheinend mit Humor. Kurz vor der programmierten Pause in der Mitte von Lullaby tischen schließlich alle möglichen Figuren ihr Mittags- oder Abendmahl auf.

"Die Welt braucht Kunst für ihre Seele", legt Diaz einer seiner Figuren auf die Lippen. Einem Spanier, der die neuartige Technik des Kinematografen vorstellt, entfährt es über die Bewegtbilder: "Ich bin kein Kritiker, aber als ich es das erste Mal erlebt habe, war es eine andere Welt." In diesem Sinne und nicht nur im Kontext eines extremen Filmemachers wie Lav Diaz bietet das Kino zurzeit immer noch eine größere Palette zur Ausgestaltung dieser Welt als Serien. Das Twin Peaks-Revival eines Post-Inland-Empire-David-Lynch könnte in diesem Kontext zum Meilenstein in der Weiterentwicklung geraten. Serien sind momentan eben nur das neue Kino, falls der eigene Begriff vom Kino sich auf die Erzählformen mittelbudgetierter Hollywood-Dramen oder -Genrefilme beschränkt. In diesem Bereich lassen Fernsehen und Streaming das auf Blockbuster fixierte amerikanische Mainstream-Kino tatsächlich hinter sich. Serien erzählen schlicht vielfältigere Geschichten mit vielfältigeren Helden.

Also nochmal: Zumutung? Nein. Gut? Vielleicht. Das "Urteil" über A Lullaby to the Sorrowful Mystery muss warten, bis ich mir einen Reim aus einem Film gemacht habe, dessen aufmerksame Sichtung nur durch einen halben Liter Kaffee ermöglicht wurde. Der in eine der faszinierenderen Welten der diesjährigen Berlinale entführt und einen trotzdem wiederholt der Abreise entgegenfiebern lässt. A Lullaby to the Sorrowful Mystery lädt ein, sich fordern zu lassen. Hinterher sollte man es mit Lav Diaz selbst halten, der nach der Premiere vorschlug, was den 8 Stunden im Kino folgen sollte: "Rausgehen, einen trinken und Spaß haben."

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