Was könnte besser zu schwülen Sommernächten, die ohnehin nur aus schlaflosem Hinundherwälzen bestehen, passen, als Mulholland Drive, eines der fesselndsten Meisterwerke eines an Meisterwerken alles andere als armen Regisseurs wie David Lynch? Und was für ein Kommentar könnte besser die Rückkehr des Kommentars der Woche feiern, als dieser von Adrian.Cinemacritics, der uns mit auf eine Reise in eine fiebrige Welt nimmt, in der nichts so ist, wie es scheint?
Seid gewarnt, ihr Schlaflosen, denn wenn ihr den Mulholland Drive noch nie betreten habt, erwarten euch hier Spoiler - und so viel Begeisterung, dass ihr vielleicht nie wieder wirklich von diesem Film loskommen werdet...
Der Kommentar der Woche von Adrian.Cinemacritics zu Mulholland Drive
Würde ich an einen Regisseur
denken, der genau verstanden hat, wie man mit Träumen in Filmen
umzugehen weiß, dann würde mir ohne Frage zuerst David Lynch einfallen.
Er begreift, dass Träume nicht nur Auskunft über die tiefsten
Abgründe eines Menschen geben, sondern sie uns wortwörtlich in die
Psyche einer Person blicken lassen, und uns mit deren sehnlichsten
Wünschen, sowie ihren größten Ängsten konfrontieren können.
Und nur wenige Filme konnten uns das besser zeigen als Mulholland Drive.
Da ich sofort auf den Punkt kommen könnte, gebe ich eine Warnung an
all die Leute, die den Film noch nicht gesehen haben (und ihn definitiv
noch ansehen sollten!).
Die große Überraschung ist, dass der Großteil der Geschichte nur ein Traum war.
In den meisten Fällen ist eine derartige Wendung der Ereignisse der
Inbegriff von faulem Schreiben, ein simpler Taschenspielertrick, der nur
dazu dient, eine überraschte Reaktion aus den Zuschauern hervorzurufen,
aber so ist es nicht bei Lynch. Auch wenn der Regisseur uns im letzten
Drittel des Films offenbart, dass alles was wir bisher gesehen haben, aus
der Fantasie einer erfolglosen Schauspielerin mit einem gebrochenen
Herzen entsprungen ist, und daher nichts davon wirklich real war, macht
das die ersten zwei Drittel keinesfalls irrelevant. Ganz im Gegenteil,
dadurch dass wir erst Bekanntschaft mit der von Diane Selwyn selbst
erschaffenen Traumwelt machen, verstehen wir ihren Charakter, sowie ihre
Probleme viel besser als wenn Lynch uns einfach alles, was wir wissen
müssen, auf einem Silbertablett serviert hätte - auch wenn die
Wahrscheinlichkeit ziemlich hoch ist, dass ihr, nachdem ihr den Film zum
ersten Mal gesehen habt, noch nicht jedes einzelne Puzzleteil gefunden
habt, um euch ein klares Bild davon zu machen, was zum Teufel David
Lynch in den letzten zweieinhalb Stunden auf euch losgelassen hat.
Ich will nicht lügen: Ich hatte einen schweren Anfang mit diesem Film. Über meinem Kopf waren so viele Fragezeichen, es wäre nahezu unmöglich gewesen, sie alle aufzuzählen. Was ist denn nur los, dachte ich mir. Warum sehe ich mir das gerade an? Was ist der Zweck von dieser Szene? Wie kommt das alles zusammen? Und überhaupt: Ist es der Film überhaupt wert, dass ich mir so sehr über ihn den Kopf zerbreche?
Als Antwort auf die letzte Frage kann ich jetzt nach langer Zeit sagen: Ja, definitiv!
Auch wenn es ein ziemlich lausiger Vergleich ist, kann man die erste
Erfahrung mit Mulholland Drive (oder generell jedem David Lynch-Film)
mit seinem ersten Bier vergleichen: man bekommt etwas geboten, das man
noch nie zuvor hatte, und ist sich in den meisten Fällen nach dem ersten
Versuch erstmal unsicher, was man davon halten soll. Auch der
Nachgeschmack ist ziemlich oft nicht wirklich das, was man sonst gerne
zu sich nimmt. Aber nach mehreren Versuchen kommt man so langsam auf den
Geschmack, bis man nicht mehr genug davon kriegen kann. Und so erging
das mir bei diesem Film.
Anstatt Antworten zu verlangen, habe ich angefangen, Fragen zu
stellen und mit etwas Überlegung kamen die Antworten von ganz allein.
Warum würde Diane Selwyn von einem Mann träumen, der sich vor einem Bettler zu Tode erschreckt? Da sie auf ihn ihre Angst vorm sozialen Abstieg überträgt und sie den Anblick einfach nicht ertragen kann.
Warum lässt Diane zu, dass ihre Freundin Camilla Rhodes (in ihrem
Traum als Rita umgetauft) Amnesie hat und sich nicht mehr daran
erinnert, wer sie ist?
Damit sie nachdem Camilla ihr im echten Leben den Laufpass gegeben
hat, sie gehorsam ist, nur mit ihr Zeit verbringt und sie die
Möglichkeit hat, sie nach ihrem Belieben “umzugestalten” (was wohl der
Grund ist, warum sie kurz vorm Ende eine Perücke trägt, die den Haaren
von Diane sehr ähnelt).
Wieso hat Diane in Form ihres selbst erfundenen, perfekten Ichs
Betty für einen kurzen Augenblick einen Nervositätsanfall im Club
Silencio?
Da es sich bei der Show, die sich Betty und Rita anschauen, darum
handelt, dass alles was gezeigt wird, wie die ganze Traumwelt von Diane, eine Illusion ist, und sie sich durch diese Erkennung mit ansehen muss,
wie ihre eigene, kleine, schöne Welt zu zerbrechen droht.
Und so weiter...
Wenn man sich diesen Film anschaut, muss man im Kopf behalten, dass nichts dem Zufall überlassen wurde. Überall lassen sich kleine Details auffinden, die uns mehr verstehen lassen, was in Dianes Kopf vor sich geht. Und da der Film den Vorteil hat, zum größten Teil im Traum einer Person angesiedelt zu sein, darf er sich erlauben, an vielen Stellen etwas zu übertreiben. So wird der Kopf hinter der Filmindustrie als bedrohlicher, fast schon grotesker Mann dargestellt, der wie ein James Bond-Schurke in einem dunklen Raum sitzt, was Dianes Abscheu gegenüber den Leuten, die ihr nicht die Rolle gegeben haben, zum Ausdruck bringt. Oder so ist die Trennung von Adam Keshner mit seiner Frau ziemlich überspitzt inszeniert, was eine Genugtuung für Diane ist, da er ihr im echten Leben Camilla ausgespannt hat. Auch wenn Lynch den Traum auf einer einigermaßen realistischen Ebene inszeniert, schadet das dem Film kein wenig, da es hier um eine abstrakt erzählte Charakterstudie geht. Selten wurden die besten, als auch die schlimmsten Seiten der eigenen Fantasie so schön beleuchtet wie in diesem Film.
Mulholland Drive ist hochintelligentes, gut durchdachtes, herausforderndes Kino, das einen nicht mehr loslässt und in uns immer wieder das Verlangen wecken wird, uns ein weiteres Mal diesem wunderschönen Wahnsinn hinzugeben und sei es nur um weitere Puzzleteile aufzusammeln, um sie hinterher miteinander zu verbinden, bis man sich ein Bild davon machen kann, was im Kopf der Protagonistin (oder im Kopf von Lynch) vor sich geht.
Meine lange Reise mit dem Film kam letzten Endes zu genau dem Happy
End, wie man es scheinbar nur in Hollywood finden kann, und ich kann
allen glücklich mitteilen, dass dieser Film jetzt zu meinen absoluten
Favoriten gehört.
Ich ziehe meinen Hut vor ihnen, Lynch!
Den Originalkommentar finden ihr hier!