David Cronenberg - Neues Fleisch braucht das Kino

15.03.2018 - 09:00 UhrVor 6 Jahren aktualisiert
David Cronenberg
Sony Pictures Classics
David Cronenberg
6
37
Mutierte Wissenschaftler, sexhungrige Humanparasiten oder die bizarre Erotik von Autounfällen - niemand setzt zerberstende Körper so lustvoll in Szene wie David Cronenberg. Nun feiert der kanadische Filmemacher seinen 75. Geburtstag.

Seinen ersten Film drehte David Cronenberg im Jahr 1966, kurz bevor die kanadische Regierung mit dem Aufbau einer staatlich geförderten Kinoindustrie begann. Transfer, so der Titel, zeigt einen in die Wildnis geflohenen Psychiater, den ein aufdringlicher Patient belagert. Die Männer reden aneinander vorbei, Therapiemethoden scheinen nicht anzuschlagen. Am Ende gesteht der Patient, er habe einige seiner Leidensgeschichten erfunden, um das Interesse des Psychoanalytikers zu gewinnen. Sieben Minuten dauert Transfer, Cronenbergs noch leicht unbeholfen wirkendes Herantasten an die filmische Form. Sieben Minuten, in denen sich Sensibilitäten abzeichnen, die sein Kino über ein halbes Jahrhundert lang prägen werden.

Von Beziehungen zwischen Patienten und den sie behandelnden Ärzten erzählt später auch Die Brut (1979). Darin forciert ein Psychotherapeut die Symptome seelischer Störungen, um sie mit der Behandlung psychosomatischer Erkrankungen zu heilen. Freilich missglückt das Experiment, eine Patientin gebärt tödliche Monster, die ihre Wut allzu buchstäblich kanalisieren – Freuds Konzept der Übertragung, auf den Cronenbergs Regiedebüt Transfer Bezug nahm, erhält bizarre Gestalt durch den ganz unfreudianisch erzwungenen (statt therapierten) Abwehrmechanismus von psychischer zu körperlicher Verschiebung. In Eine dunkle Begierde (2011) geht es dann tatsächlich um Sigmund Freud selbst: Am Verhältnis von Lehrmeister zu Schüler und von Theorie zu Anwendung zeichnet Cronenberg psychodynamische Erforschungen historisch nach.

Als Knotenpunkte eines organischen, thematisch verwobenen und sich gewissermaßen ständig selbst befruchtenden Schaffenswerks haben diese drei Arbeiten konkretisiert, welche mentalen Unruhen jene körperlichen Zersetzungen bedingen, für die David Cronenberg weit über Kanadas Grenzen hinaus berühmt wurde. "Body Horror" heißt das seinem Kino angeheftete Label, mit dem die viszeralen Bilder aufplatzender Schädel und grauslicher Geschwüre in ein vergleichsweise profanes Image übersetzt werden sollten. Cronenberg lehnt diesen Begriff ab, weil er seit jeher mehr Zu- denn Beschreibung seiner Geschichten über drastisch veräußerlichte Gefühlshaushalte ist.

Videodrome: Medien verstehen lernen

Cronenberg-Filme setzen Verfallsprozesse explizit in Szene, sie werden durch ein Körperbewusstsein zusammengehalten, das die Endlichkeit menschlichen Fleisches unzweifelhaft veranschaulicht. Solche Bilder aber zeigen nur Resultate, das Augenmerk liegt auf komplizierten Körperwelten. Cronenberg-Filme stellen sich der Herausforderung, innere Zustände abzubilden, nicht psychologisiert oder erfahrbar gemacht im Sinne des Affekts, sondern mitsamt der unlöslichen Rätsel, die sie den Figuren aufgeben. Körper, in die Irre geführt vom Verstand. Oder Gedanken, die töten können, wie es der deutsche Zusatztitel von Scanners (1981) vorwegnahm. David Cronenberg ist Existenzialist. Noch der phantastischste Einfall kennt natürliche Grenzen, immer hat die Biologie das letzte Wort. Ein Jenseits gibt es nicht, der Geist ist bezwungen, der Körper verdirbt.

"Long live the new flesh", ruft der Kabelsenderbetreiber Max Renn in Videodrome (1983), bevor er sich eine mit seiner Hand verschmolzene Waffe an den Kopf hält und abdrückt. Der Idee vom sogenannten neuen Fleisch hat sich David Cronenberg über 30 Regiearbeiten hinweg angenähert, von Selbstmodifikationen des Körpers bis zu dessen vollständiger Transformation. In Parasiten-Mörder (1975), seinem ersten Kinofilm, erprobt ein Arzt die Heilung von Organen mit Fremdorganismen, die bei ihren menschlichen Wirten vor allem libidinöse Folgen haben. In Die Fliege (1986) wird der Wissenschaftler Seth Brundle Opfer eines schief gelaufenen Teleportationsexperiments, dessen anschließende Verwandlung zum Mensch-Insekt-Hybriden er als hochpotenten Prozess empfindet, an dem auch seine Freundin teilhaben soll, um sich "sexy zu fühlen".

Crash: die Heteronormativität wegvögeln

In Crash (1996) gerinnen die Wucherungen zur Utopie. Der Autounfall eines Filmproduzenten und einer Ärztin offenbart sich ihnen als sexuelles Erweckungserlebnis, das dem neuen Fleisch ein gleichfalls versehrtes und mit selbstgebauten Apparaturen zur Stützung der Gelenke aufrechterhaltenes Gewebe verleiht. Sind solche Begehrlichkeiten erst einmal freigelegt, kennen Cronenbergs Figuren kein Halten: Sie wollen "ins Plasma eintauchen" (Die Fliege) oder "neurale Schleusen öffnen" (Videodrome). Die Vereinnahmung und Zerstörung des Körpers durch fremde Lebensformen, seine Umformung durch sprießende Organe und geschlechtliche Veränderungen, die willentliche Mutation als ultimative Selbstoptimierung: In Bildern von Krankheit und Lädierung, die andere als verstörend empfinden, entdeckt David Cronenberg aufreibende Sinnlichkeit.

Es ist kein Widerspruch, dass die neufleischlichen Überschreitungserfahrungen den Anfang vom Ende markieren. Aus Perspektive der Parasiten, sagt Cronenberg, geht es in seinen Filmen um kreative und nicht um zerstörerische Kraft – sie zeigen lediglich Grenzen, die das alte dem neuen Fleisch setzt. Unter den jetzigen gesellschaftlichen Bedingungen muss die Neubildung des Ich zur Entfremdung und schließlich zum Niedergang führen: "Abseits des Körpers ist für uns alles Abstraktion", so Cronenbergs spezifischer, unidealistischer Wahrheitsbegriff. Sein Interesse gilt deshalb eigenen Realitäten und der Verschiebung von Wahrnehmung. M. Butterfly (1993) handelt von einem französischen Diplomaten, der sein Verhältnis zu einer chinesischen Sängerin als Oper ohne Bühne inszeniert. Verstiegen in Ideen von Besitz und Aneignung, erkennt der Mann nicht, dass seine Geliebte gar keine Frau ist.

Die Fliege: Lustgewinn durch Körperzersetzung

Die Protagonisten in eXistenZ (1998) wiederum installieren sich einen "Bioport", um ihr Nervensystem mit Spielkonsolen zu verbinden. Der Körper wird lustvoller Ansteckpunkt und Medium der Entkörperung zugleich, die Reise ins Innere kennt weder Anfang noch Ende. Spider (2002) handelt von einem schizophrenen, in sich verlorenen Mann und fragt nach der Abhängigkeit von Identität zu Erinnerung. Der typische Cronenberg-Held ist Künstler, Wissenschaftler, Intellektueller, ist wissbegierig und eloquent. Aber die Welt versteht er nicht. Seine Krankheiten, die ihn befallen, seine telepathischen und hellsichtigen Fähigkeiten, die er entdeckt, können bestenfalls eingeschränkt nutzbar gemacht werden. Fast jeder Cronenberg-Film also endet mit dem Tod.

Dennoch wohnt diesen Geschichten auch Komik inne. Der sprechende Anus aus Naked Lunch (1991) als Hommage an William S. Burroughs, die asymmetrische Prostata in Cosmopolis (2012) als Ausdruck emotionaler Unentschiedenheit – sogar Die Unzertrennlichen (1988), Cronenbergs betrüblichster Film, hat besonderen Humor, wenn das halbtot über den Boden kriechende Zwillingspaar sich am Schluss ein Stück Torte teilt. Mit Genrekategorisierungen ist diesem Werk ohnehin nicht beizukommen, ständig nimmt es unerwartete Abzweigungen. Niemand sonst würde einen ausschließlich auf dem Land spielenden Film über Computerspiele und virtuelle Realität ohne sichtbare Bildschirme oder anderweitige Mittel der High-Tech-Visualisierung in Szene setzen. David Cronenberg widersteht immer dem Naheliegenden. Und sicherlich ist das ein Grund, warum Hollywood nie etwas mit ihm anzufangen wusste. Bis auf wenige Einstellungen für Maps to the Stars drehte er kein einziges Mal in den USA.

Vier Jahre liegt das nun zurück, für Cronenberg-Verhältnisse eine ungewöhnlich lange Pause. Zuletzt deutete Viggo Mortensen den unfreiwilligen Ruhestand  seines späten Lieblingsregisseurs an. Es steht zu befürchten, dass David Cronenberg den immer schon schweren Kampf um Finanzierungen mittlerweile aufgegeben hat, dass er sich einreiht in die Liste jener Filmemacher der 1970er Jahre, die sich das Gegenwartskino nicht mehr leisten möchte. Vergeblich bemühten sich Wes Craven, George Romero und Tobe Hooper vor ihrem Tod um Geld für neue Projekte, das Netflix-Gnadenbrot isst Martin Scorsese allein. Sollte Maps to the Stars, das Kleinod über eine sich kannibalisierende Filmindustrie, tatsächlich Cronenbergs letzte Arbeit sein, läge darin vielleicht die angemessene Pointe seines vom unaufhaltsamen Verderben erzählenden Kinos.

Welcher ist euer Lieblingsfilm von David Cronenberg?

Das könnte dich auch interessieren

Angebote zum Thema

Kommentare

Aktuelle News