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Das Mädchen ohne Lippenstift

14.10.2014 - 12:00 Uhr
Sailor & Lula
Senator
Sailor & Lula
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Meine Lieblingsszene

In der Nacht ist es in der Wüste finster und leer. 

Die Müdigkeit holt mich auf dem Highway ein. Die letzte Tankstelle liegt seit einer Ewigkeit bizarrer Nachrichten und Musik aus dem Radio hinter uns. Ich weiß nicht mehr, wie diese Bäume heißen, die von Zeit zu Zeit aus der Dunkelheit auftauchen. Hab ihren Namen vergessen. In meinem Kopf noch Sailors Duft und die Lichter gestern vom Tanzen irgendwo in New Orleans. Jetzt sitzt er wortlos hinter dem Steuer und starrt auf die Straße. Die scheint einfach in die Schwärze zu rollen. Und ich sehne mich nach sowas wie Sonne. ´n Drink wäre auch gut. Irgendwas das wärmt. Mein Haar fühlt sich stumpf an. Ist das möglich?

Hier auf der dunklen Seite dieser irren Welt ist es kalt. Aber noch liegt alles vor uns. Auch wenn ich Angst habe. Vor dem, was da liegt und vor dem, was hinter uns durch die Nacht rast. Ohne Sailor ist die Welt gar nicht da. Doch hier sind wir irgendwie im Nichts gelandet. Zwei im Nichts. In einem alten Cabrio. Mit ein wenig Musik.

Dann seh´ ich was auf der Straße. „Was ist das?“ Zeug auf dem Asphalt verteilt. „Ich weiß nicht“, antwortet Sailor, „sieht aus wie Klamotten.“ Wir fahren einfach drüber. Lauter Sachen, die jemandem gehören. Als würden wir sie überfahren. Aber Sailor folgt ihnen, und wir werden langsamer. Da ist was am Straßenrand in den Lichtkegeln unsere Scheinwerfer. Ein Wagen. Ein Unfall.

Ich möchte nicht halten. Das ist nicht gut. Hier mitten im Nichts. Unter unseren Reifen knirscht Sand als wir halten. Und da sind diese Bäume. Sie erinnern mich an an Tiere. Ihre Stämme sehen aus wie große Vogelspinnenbeine. „Sie haben hier auf uns gewartet“, denke ich, als wir aussteigen, und kann die Leiche neben dem Wagen sofort sehen. Es ist eine Leiche, das weiß ich. „ Oh Gott Sailor“, bringe ich heraus. Ich möchte ihm sagen, dass wir weiterfahren sollen. Verdammt. Ich hab das Gefühl, dass sie gleich aufstehen wird. Meine Lippen sind trocken. Ich kann nichts sagen. Es ist nicht nur eine Leiche.

Ich lasse ihn einfach hingehen. Natürlich. Er will helfen. Aber er wird nicht mehr helfen können. Ich kann es in meinem Mund bitter schmecken, dass es zu spät ist. „Ein schlimmer Unfall“, murmelt er. Gegen die flackernden Scheinwerfer des zerstörten Autos kann ich seine breiten Schultern sehen. Und ich möchte in seinen Armen liegen in einem Bett, das gut riecht, und einfach so da liegen. Nicht hier in der Nacht sein. Sondern zuhause. Aber das ist fort. Es liegt wie in einem anderen Königreich.

Irgendwas klappert am Autowrack, und sie sind alle tot. Liegen draußen auf dem Sand zwischen dem spärlichen Gras. Einfach nur Wüste und Nacht und der Wagen ist lebendiger als sie.

Dann seh ich jemanden. Zwischen den haarigen Baumstämmen bewegt sich etwas. „Sailor!“, schreie ich. Mehr geht nicht. Hier stinkt alles nach Tod und Ende. Dann kommt die Gestalt torkelnd ins Licht. Ein Mädchen. In Jeans und bauchfreien schwarzem Top. „Wo kommt sie her?“, bringe ich noch heraus. Sie muss aus der Wüste kommen. Vielleicht holt sie jetzt die Seelen der armen Teufel aus dem Wrack. Und dann unsere.

Aber sie ist nur ein Mädchen. „Ich weiß nicht, aber wir müssen ihr helfen“, sagt Sailor. Kann hören, wie er schwer atmet. Er ist der beste Mann auf diesem Planeten, aber das hier ist harter Mist. Trotzdem ist er cool. Sailor bleibt cool. Mein Mann. Es ist Sailor. Auch wenn ich vor Angst und etwas anderem kaum klar denken kann.

„Wir müssen sie in die Stadt schaffen“, sagt er bestimmt. Dann tritt das Mädchen ins Licht. Sie ist nur ein verwirrtes Mädchen. Ihre schwarzen Schulterlangen Haare kleben um ihr Gesicht. Sie erinnert mich an ein Mädchen aus dem Fernsehen, aus einer Serie. Sie ist vielleicht 19 oder 20. Ihre Augen zucken umher. „Ich kann Bobby nicht finden“, stammelt sie leise. Sieht sie uns überhaupt? Spricht sie mit uns? „Ich weiß nicht, wo mein Portmonai ist, eben hab ich es noch gehabt. Aber...“ Sie sucht nach Worten. „Wo ist Bobby? Wo ist mein Portmonai?“ Sie kommt stolpernd näher, „ich kann es nicht finden.“ Sie bleibt unsicher vor uns stehen. Und dann kann ich das Blut sehen, dass unablässig über ihr Gesicht läuft.

Ihre Finger vernesteln sich ineinander. Sie weiß nicht, wo sie ist. Sie weiß nicht, was geschehen ist. Sie ist völlig allein. Sie ist noch viel einsamer als ich und Sailor hier draußen. „Meine Mutter bring mich um“, versucht sie zu erklären,“ in meinem Portmonnaie waren alle meine Karten, und ich hatte es hier in meiner Tasche und jetzt ist meine Tasche auch weg...Ihr müsst mir helfen, ich bekomme wirklich Ärger, meine Mutter bringt mich um...“ Wie stehen wie erstarrt vor ihr. Das ganze weht zu uns herüber, wie etwas aus einem schrecklichen Märchen. Es ist unaufhaltsam und längst passiert. Sie ist wie ein Geist. „Da waren alle meine Karten drin, und es war in meiner Tasche“, schluchzt sie verzweifelt und kramt in ihrer Hosentasche, „es war in meiner Tasche...“ Auf ihrem Bauch ist Blut, und in ihren Haaren und auf ihrem Gesicht. „Mein Pass ist weg!“ Schreit sie hilflos. Und irgendwas, was ich nicht verstehen kann. Ich möchte sie anfassen. Ich möchte sie berühren. Sie ist so allein. Aber sie dreht sich um und stapft verwirrt in die Wüste. Sailor versucht sie zu beruhigen: „Komm her“, sagt er,“kommt zu uns.“ Ich laufe taub hinterher. „Glaubst Du, sie packt das?“ , höre ich mich selbst von ganz weit her fragen. Meine Stimme klingt hysterisch aber schwach. „Ich weiß es nicht, aber sie muss mit uns kommen“, antwortet Sailor, während er versucht, sie zu packen. „Sie wird uns das Auto vollbluten“, sagt er. „He, Du, Hallo! Mädchen!“ Wir taumeln im Kreis hinter ihr her. Um den verendeten Wagen. Wie um ein Lagerfeuer aus stotterndem Scheinwerferlicht. Stockend. Wie ein Videoband mit kurzen Aussetzern.

„Du musst mit uns kommen, Kleine“, versucht Sailor es nochmal und packt sie vorsichtig am Arm, aber sie zieht ihre Hand weg und Schreit: „Verschwindet!“ Sailor zieht seinen Arm zurück. Dann dreht sie sich zitternd zum Wrack. Es scheint als würde sie erwarten, dass jemand aus dem Wagen steigt und sie endlich in den Arm nimmt. Ihr ihr Portmonnaie wiedergibt. „Robert!“, brüllt sie außer sich und noch einmal heiser: „Rooobeeert!“ Sie schluchzt auf. Sie fährt sich in die Haare und alles dort ist voller Blut. „Scheiße“, murmelt sie, „da ist was klebriges in meinen Haaren...“ Ich beiß mir auf die Lippe und möchte wegrennen. Ihr ganzer Schädel ist offen.

Sie dreht sich zu uns. „Was ist das für klebriges Zeug in meinen Haaren?“ Wie ein kleines Mädchen schaut sie uns an, und Sailor versucht sie zu beruhigen: „Du musst jetzt mit uns kommen“,sagt er irgendwie verzweifelt aber auf seine ruhige Art. Doch er weiß genau wie ich, dass das nicht mehr passieren wird. Sie ist schon weit weg. Obwohl sie direkt vor uns zitternd in der kalten Wüste steht, ist sie schon fort. Auf dem Weg zum Mars oder zu einem anderen verdammten Planeten.

„Ich muss meine Tasche finden, bitte, erzählt das nicht meiner Mutter, bitte...“ flüstert sie leise, dann strauchelt sie. Sie fällt einfach vorüber mit einem Laut, als hätte man ihr den Boden weggezogen. Neben den Stamm eines der Spinnenbäume. Sailor und ich versuchen sie zu packen und sie schreit wie von Sinnen: „Wo ist meine Haarbürste!?“ Ich kann ihr Parfüm riechen, ihre Haare und das Blut. „Verdammt, Sailor, sie stirbt hier direkt vor unseren Augen“, höre ich mich herausbringen. Dann lassen wir sie zu Boden, und etwas schwarzes läuft auf ihrem Mundwinkel wie Erdöl. Ihre Stimme ist nur noch ein Flüstern: „Gebt mir meinen Lippenstift,... er ist in meiner Tasche...“ Dann erschlafft ihr schmächtiger Körper in unseren Händen. Ihr Gesicht ist weiß. Und still. Und abgehackt bricht es über meine Lippen: „Gott, Sailor, sie ist in unseren Armen gestorben. Warum in aller Welt mußte sie uns das antun?“ Er weiß keine Antwort. „Lass uns hier verschwinden, Peanut. Hier könn´ wir nichts mehr tun.“ Wie recht er hat. Ich habe das Gefühl, dass wir in die Hölle hinabsteigen. Und dass diese kalte Wüste und das tote Mädchen nur die ersten Stufen sind.

2014 – Wild at Heart – interpretiert von ?

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