Cannes 2014 - Soraly im Rausch der Côte d'Azur

03.06.2014 - 08:50 UhrVor 10 Jahren aktualisiert
FDC/Lagency/Taste/moviepilot
K
6
38
Von Zeit zu Zeit haben wir das Glück, dass ein moviepilot-Mitglied zu den Auserwählten gehört, die ein Filmfestival besuchen können. So wie Soraly, die uns diese Woche an ihren 10 wundervollen Tagen auf den Filmfestspielen in Cannes teilhaben lässt!

Der rote Teppich führt immer aus dem Meer und ragt in den Himmel. Auf gläsernen Stufen geht es aufwärts, Stufe um Stufe, Schritt um Schritt, vorbei am Nichts, hinein in die Sterne. Ein jeder Film der offiziellen Sektion des Festival de Cannes beginnt auf diese Weise, wie ein jeder Film folgend seinen Weg in das Herz, den Kopf oder beides zugleich einschlagen soll. Freilich, den wenigsten mag gelingen, was sie ursprünglich versuchten zu erreichen. Denn zuvor gilt es – Stufe um Stufe, Schritt um Schritt – einen Zeitgenossen zu überzeugen, der gemeinhin für unüberzeugbar gehalten wird: nämlich der Filmjournalist. Und von dieser Gattung gibt es alljährlich in Cannes eine ganze Menge. Es gibt sogar so viele, dass ein anderer Filmjournalist geringerer Relevanz oftmals mit größter Sorge und bangem Blick die Warteschlange von nebenan observiert, in dem sich der Kollege höherer Hackordnung einfindet.

Nun war ich für zehn Tage ein Gelber, aber nicht mehr grün hinter den Ohren. Das System ließ sich schnell durchschauen: Da gab es die Pressemeute mit weißem, jene mit rosafarbenem (wahlweise mit oder ohne gelben Punkt), jene mit blauem und schließlich jene mit gelbem Ausweis. Gelb heißt auch, man hatte Glück genug, sich überhaupt in die Schlangen einreihen zu dürfen. Nun denn: ab in die Sterne!

Und in die Sterne ging es. Zwar nicht sogleich – denn zunächst folgte eine Art fixes Warm-up am ersten Tag, als es notgedrungen (aber hoch erfreut, das sollte ich doch bemerken) in den Eröffnungsfilm Grace of Monaco ging. Wenn man nun über den gemeinen Filmjournalisten wirklich etwas erfahren wollte, dann wartete man immerzu auf den Abspann. Aber nicht immer war der Abspann auch notwendig. Im Falle von Olivier Dahans Versuch einer glamourösen Aufarbeitung des Lebens der Grace Kelly sollte allgemeines Stöhnen und Keuchen bereits während der Vorführung Kommentar genug sein. Dies war der Filmjournalist, wie man ihn kennt.

Der Filmjournalist, wie man ihn nicht kennt, kann aber auch anders: Er kann jubilieren, er kann weinen, lachen, applaudieren. Vielleicht zeigt sich aber auch der Terminus Filmjournalist grundsätzlich ungeeignet, uns Auserwählte zu beschreiben. Eigentlich lieben wir doch nur Film. Und wir finden uns für zehn wundervolle Tage zusammen, um diese Liebe in prachtvoller Kulisse (das Meer, die Palmen, die Sonne!) neu zu entdecken. Jahr für Jahr. Manche kennen sich seit gefühlt 1973, manche erst seit fünf Minuten. Aber man spricht dieselbe Sprache. Und manchmal erblühen die Herzen gemeinsam im Takt eines einzigen Films.

Obwohl man leichthin vergisst, um was es wirklich geht. Nein, nicht um die Filme. Obwohl: ja, durchaus ein wenig. In Wirklichkeit aber geht es um die Menschen. Es geht um den Algerier, der mich am zweiten Tag mit dem Auto mitnahm, als um halb elf keine Züge mehr fuhren; es geht um die Norweger, die für einige Tage nach Cannes flogen, weil sie ihren Sohn Hallvar Witzø (Oscar-nominiert für Tuba Atlantic ) unterstützen wollten, der im
Kurzfilmwettbewerb seinen Beitrag Ja vie elsker vorstellt und die mit dem französischen Fahrkartensystem berechtigt überfordert waren; es geht um den Briten, den ich vor der Vorführung von Foxcatcher traf und mit dem ich danach die bisher gemachten Erfahrungen austauschte; es geht um die Spanier und Italiener, die, ebenso gelb wie ich, meist als Erste in den Schlangen anstanden und die ich jederzeit wieder traf; es geht um den Schweizer, der mich unbekannterweise auf Cannes vorbereitete, dass ich wie ein alter Hase in die Vorführungen lief. Man kennt seine Leute hier recht schnell. Das Thema schließlich ist immer dasselbe: die Filme. Also ja, doch, es geht um die Filme in Cannes. Aber ohne die Menschen wären die Filme wohl im Verhältnis sehr uninteressant.

So geschah es spät bei Xavier Dolans Mommy am bereits zehnten Tag, dass einige Hundert Journalisten und Filmschaffende aufgeschreckt in ihren Sitzen ruckelten, weil sie sahen, was sie neun Tage zuvor immer hofften, sehen zu können. Nun, es wird nicht allen gleich ergangen sein. Aber mir schlug der Rausch des Lebens in seinen Facetten entgegen: der Schmerz, die Tragik, das Scheitern, die Freude. Als der Protagonist Steve (Antoine-Olivier Pilon) in wilder Euphorie die Straßen entlang fegt, öffnet sich plötzlich das zuvor quadratische Format. Es stößt ein Tor auf in die Welt des Cinemascope. Und es stieß mein Herz mit Wucht in Emotionen, die ich vielleicht bei einem Film von neunundneunzig empfand. Plötzlich war ich hellwach und doch erledigt. Weil sich die Strapazen von zehn Tagen konzentrierten Filmsehens und -rezensierens zeigten. Und, weil ich den baldigen Verlust spürte, den das Ende des Festivals mit sich bringen würde. Ich war hier unter Palmen, um zu arbeiten – und es fühlte sich mehr nach einem Roadmovie in Länder, Sitten und Kulturen an. In Cannes sieht man noch die Welt, ohne, dass sie jemand einem vorher beschrieben hätte. Welch wundervolles Gefühl!

Wie seltsam aber doch gleichsam auch die Diskrepanz zwischen wirklicher Reaktion und später publizierter ist. Da hörte ich im Nachhinein von einem aufgelöst buhenden Publikum bei Ryan Goslings Debüt Lost River. In Wirklichkeit aber erstarb jegliches Missfallen rasch (sehr zu meinem eigenen Missfallen), während stattdessen Applaus entbrannte, der sicher nicht am lautesten, aber doch eigenartig treibend war. Es ist nur ein Beispiel von vielen, dass die Geschichten meist nicht in Cannes, sondern in den Köpfen der Journalisten selbst geschrieben werden.

Obwohl es sonst so viel zu erzählen geben würde: Wie ich kurz davor war, in Damien Chazelles Whiplash (eine kleine Sensation!) meine sonstige gelassene Sitzhaltung über den Haufen zu werfen und dafür im Takt zu klatschen; wie ich meinen Vordermann in Lisandro Alonsos wirr anstrengendem Jauja schüchtern fragte, ob er nicht seinen Kopf ein wenig von den englischen Untertiteln weg bewegen könnte und ich ihn eigentlich viel lieber angeschrien hätte; wie ich mein Smartphone am ersten Tag verlor, als ich mit der Fähre nach Île Sainte-Marguerite düste und somit den von vielen sehr geliebten Timbuktu des mauretanischen Regisseurs Abderrahmane Sissako verpasste; wie ich spät Tim Roth an der Croisette begegnete und ich so filmtrunken war, dass es nicht zu mehr als einem müden Blick reichte.

Apropos Lost River – oder ursprünglich für diesen Kasus treffender: How to Catch a Monster. Manchmal ist ein Filmfestival nicht nur Arbeit, es ist vorrangig Kampf. Ganz so wortwörtlich sollte man diesen Kampf aber wirklich nicht nehmen. Ein Mann knapp hinter mir in der Warteschlange zur Gosling’schen Stilkopiermaschinerie meinte dies ein wenig anders. Als sich da ein Journalistenkollege nicht hinten anstellen wollte (und es ging sehr sehr weit nach hinten), da fing er plötzlich an zu wüten und hätte wohl auch vor konkreten Angriffen keinen Halt gemacht, wenn sich denn nicht just in dem Moment die Schlange endlich bewegt hätte. Das ist immerhin der Vorteil der Nebensektion “Un Certain Regard”, die zwischen Gelben und Blauen keinen Unterschied macht.

Das könnte dich auch interessieren

Angebote zum Thema

Kommentare

Aktuelle News