Berlinale Tag 5 - Warum hassen alle Sächsisch?

10.02.2015 - 08:50 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
Im Uhrzeigersinn: Redskin, Als wir träumten, Body, How to Win at CheckersPandora, Add Word Productions, Paramount, Nowhere
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Andreas Dresen erzählt in Als wir träumten von den technodurchtränkten Nachwendejahren, und Pablo Larraín eröffnet eine WG pädophiler Priester. Ein typischer Berlinale-Tag eben.

Die großen Fragen werden in den Wettbewerbsfilmen der Berlinale 2015 aufgeworfen. Hat das Leben einen Sinn? Ist der Mensch in seiner Gewalttätigkeit eine Singularität im Universum? Warum hassen alle Sächsisch? Ja, warum eigentlich? In Andreas Dresens neuem Film Als wir träumten wird dieses Rätsel leider nicht hinreichend aufgelöst, da Sächsisch im Leipzig der Nachwendejahre vom Aussterben bedroht war, so will es uns Dresens Film-Leipzig jedenfalls glauben machen.

Wir sind die größten
Sächsisch ist wohl nicht der eleganteste Dialekt auf unserem Erdenrund. Manchmal verwechselt man es mit schlecht gelauntem Genuschel vorm ersten Kaffee des Tages und an diesen grausamen Zustand will niemand erinnert werden. Assoziationen mit Einfältigkeit und Provinzialität kommen auf, wenn die Konsonanten klingen, als hätte man den Mund voller Kartoffelbrei und die Nase in einer Kneipenschlägerei demoliert. Früher Kanzleideutsch, heute das "einfache" in "einfache Leute".

Sächsisch - präziser: Osterländisch - ist der Dialekt Leipzigs, in Andreas Dresens Wettbewerbsfilm Als wir träumten wird er zum Statisten verbannt. Sächsisch wurde auf Montagsdemos gesprochen und in Stasi-Gefängnissen, in Antifa-Versammlungen und Fascho-Kellern. Auch nach dem fünften "Wir sind die größten", das die aufmüpfigen Jungs im Dresen-Film in die Nacht herausschreien, ist da von Leipzig wenig zu hören. Als Kinder bei den Pionieren sprechen sie schon 1A-Hochdeutsch, also das, was heute als Hochdeutsch allgemein verstanden wird: das Anti-Sächsisch, nicht die Sprachgruppe. Mit 16 machen sie einen Untergrund-Techno-Club auf und weiter geht's durch den Hochdeutschstadtdschungel, bis Bomberjacken und Stoff die Laune vermiesen. Als wir träumten ist kein per se schlechter Film, nur ein durchschnittlicher, dessen Hauptfiguren sozusagen den graduellen Sympathiezuwachs von Schippers Victoria zu seinem Ursprung verfolgen. Knallige Zwischentitel und ein treibender Soundtrack prägen sich ein, die Party- und Feier-Szenen aus dem Handbuch der Party- und Feierszenen nicht. Stockfilmerei ist das bisweilen. Vielleicht überholte die Furcht vor Gelächter beim Dialekt das Bemühen um Authentizität. Authentisch und gelebt wirkt das Szenenbild nämlich. Mitunter lohnt es sich allerdings, Gelächter zu ertragen, statt es nur zu spielen.

Biblische Windhunde
In Pablo Larraíns neuem Film The Club gebietet der gesunde Menschenverstand, das Lachen nach zehn Minuten einzustellen. Der No!-Regisseur und seine beiden Drehbuchautoren Guillermo Calderon und Daniel Villalobos geben trotzdem immer mal wieder Anlass dazu, obwohl es beim Thema im Halse stecken bleiben müsste. In Larraíns Film steigen wir im übertragenen Sinne in den tiefsten Keller der katholischen Kirche Chiles hinab und finden eine verstaubte Kommode voller dunkler, auf wahren Begebenheiten basierender Geheimnisse. The Club ist ein Heim für Priester, die ihren Beruf nicht mehr ausüben dürfen: Pädophile, Menschenhändler, Helfershelfer der Militärdiktatur. Im kleinen Haus in einer unbedeutenden chilenischen Küstenstadt steht die Luft im Raum, als hätte seit Jahren niemand mehr gewagt hinein zu blicken. Das Club im Titel suggeriert indes etwas Spielerisches, kein Gefängnis. Die Insassen haben es sich gemütlich gemacht. Sie verdienen Geld mit Wetten auf die Rennen ihres Windhundes. Bis ein Seelsorger kommt, um das Heim zu schließen. Die neue Kirche vertritt er und will Keller und Kommode mal so richtig ausmisten. Die Realisierbarkeit dieses Anliegens scheint in The Club trotz umfangreicher Verhöre mit den Bewohnern nicht zur Debatte zu stehen. Zu selbstgewiss läuft die Parabel unter dem erdrückenden Score von Arvo Pärt auf ihren feinsäuberlich verzahnten Klimax hinaus.

Der dritte Wettbewerbsfilm des gestrigen Berlinale-Tages lädt gleich zu Beginn zur Vollendung eines Gleichnisses ein. Da kommt der Staatsanwalt Janusz (Janusz Gajos) zum Fundort einer Leiche. Ein Erhängter wird von einem Baum geschnitten und fällt auf den Waldboden. Janusz und seine beiden Kollegen tauschen sich über die Details aus, alldieweil der Erhängte hinter ihnen aufsteht und davongeht. Malgorzata Szumowska (Im Namen des...) erzählt in ihrem leisen, zeitweise trägen und stets lakonischen Film Body von den Aufwärmstadien einer unterkühlten Vater-Tochter-Beziehung. Die heimliche Heldin von Body aber ist Therapeutin Anna, ein vermeintliches Medium. Den Tod ihres Kindes kompensiert Anna mit einer Dogge, die fast so groß ist wie sie selbst. Die darf im selben Bett schlafen und beim Fernsehen vom Abendbrot naschen. Wenn man es Cannes nachtun will, so doch bitte mit einem geteilten Darstellerpreis für dieses ungleiche Paar.

That's Uncle Sam
Rothaut. Der Todeskampf einer Rasse lautet der hiesige Titel von Redskin, dessen Untertitel sich auch in so einer Kommode findet, vergessen im Keller der deutschen Verleihgeschichte. Der Stummfilm aus der Technicolor-Retro der Berlinale ist ein sonderbares Biest. Außerordentlich unterhaltsam und für seine Zeit überraschend durchdacht im Umgang mit den Navajo und Pueblo ist Victor Schertzingers cowboyloser Western. Aber auch eine Ansammlung von Subtexten, die Magister-, pardon, Masterarbeiten bis ans Ende aller Zeiten füllen könnte. Da wäre die Grundidee, Richard Dix als Navajo zu besetzen, um anschließend die Würde und Individualität der indigenen Völker Nordamerikas zu verteidigen. Zu Fahneneid und weißer Bildungslaufbahn  wird Wing Foot (Dix) als Kind mit Peitschenhieben gezwungen, nur um als Erwachsener zu merken, dass er für seine Umgebung "weder Indianer noch Weißer Mann sei, sondern nur: Rothaut". Mit Stolz auf seine Wurzeln kehrt er heim, um die Segen der Siedler-Zivilisation ins Reservat zu bringen. Eine Romeo-und-Julia-Geschichte unter Navajo und Pueblo heizt das Drama zusätzlich an und als Wing Foot auch noch eine Ölquelle auf Navajo-Land findet, vermengen Schertzinger und Drehbuchautorin Elizabeth Pickett Realität  und Utopie, um das begangene Unrecht mit schwarzem Film-Gold aufzuwiegen. Auf welcher Seite sie stehen, wird im Film schnell klar gemacht: Navajo und Pueblo sehen wir in saftigem Grün, Rot und Braun, Schule und College dagegen sind schwarz-weiß.

Ins Panorama führte der Abschluss des 5. Berlinale-Tages. How to Win at Checkers (Every Time) von Regie-Debütant Josh Kim ist ebenfalls nicht frei von tonaler Ambivalenz, was nichts schlechtes bedeuten muss. Die liebevoll geschilderte Coming of Age-Geschichte zweier Brüder beginnt mit einem bei lebendigem Leibe verbrennenden Mann und wandelt sich in den Schlussminuten zum einigermaßen zynischen Kommentar sozialer Mobilität in der thailändischen Gesellschaft. Dazwischen ist Checkers ein betont kleiner, netter Gute-Laune-Film insofern, als die guten Momente erst dann geschätzt werden, wenn sie verflogen sind.

Berlinale-Weisheit des Tages: "Man kann alles essen, Hauptsache es ist scharf genug." (Body)

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