1965 - DEFA-Filme verschwinden im Tresor

20.09.2011 - 08:50 Uhr
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Pro Jahr produziert die ostdeutsche DEFA knapp 16 Filme, davon gibt es 1965 aber nur die Häfte zu sehen. Die andere verschwindet im Tresor. Eine kleine Katastrophe in knapp 120 Jahren Filmgeschichte, ein ganz markanter Moment für das ostdeutsche Kino.

1965, vier Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer, wird die Hälfte der ostdeutschen Filmproduktion verboten, abgebrochen oder aus dem Kino verbannt, teilweise sogar zerstört. Dabei wollen junge Filmemacher die DEFA revolutionieren, schauen auf internationale Filmneuerungen wie Neorealismus, Nouvelle Vague und cinéma vérité. Das Publikum soll mit kritischen Geschichten wieder ins Kino gelockt werden. So schizophren es heute klingen mag: Nicht nur viele Filmkünstler der DEFA erhoffen sich durch den “antikapitalistischen Schutzwall”, schlicht Mauer genannt, die Ost von West, Kapitalismus von Sozialismus, Bruder von Schwester und vieles andere trennt, eine neue, bessere und kritischere Auseinandersetzung mit dem real-existierenden Sozialismus.

Jene, die sich für den Ostteil des Landes entscheiden, befinden sich in Aufbruchstimmung. Der “direkte Feind” steht außerhalb des Systems. Die Hoffnung vieler Künstler, sich nun endlich mit den eigentlichen Problemen der Gegenwart im eigenen Land beschäftigen zu können, hält viele und sorgt für Euphorie. Aber der ehemalige Studioleiter Klaus Wischnewski brachte es Jahre später auf den Punkt: “Wir haben nicht begriffen, dass es nicht um diese oder jene Brötchen geht, sondern ums Mehl.”

Kahlschlag eines Produktionsjahres
Spur der Steine, Das Kaninchen bin ich, Berlin um die Ecke, Der Frühling braucht Zeit, Fräulein Schmetterling, n/a, Karla, Wenn Du groß bist, lieber Adam, Hände hoch oder ich schieße, Ritter des Regens, Denk bloß nicht, ich heule: All diese Filme kommen entweder nur ganz kurz oder gar nicht ins Kino, verschwinden in Tresoren oder werden gar vernichtet. Auslöser ist das 11. Plenum der Zentralkomitees der SED, auf dem die aktuelle DEFA-Filmkunst gebrandmarkt wird.

Problemfall Das Kaninchen bin ich
Das Kaninchen bin ich ist nach einem Roman von Manfred Bieler entstanden, der in der DDR nicht verlegt wird, weil er nicht zugelassen wird. Mit Argwohn seitens der Parteiführung wird das Projekt beäugt, Regisseur Kurt Maetzig versucht sich deshalb im Vorfeld abzusichern, spricht mit vielen der Verantwortlichen. Erzählt wird von der 19-jährigen Maria (in ihrem Debüt Angelika Waller), die Slawistik studieren will, aber als Kellnerin arbeitet. Ihr Bruder ist wegen “staatsgefährdender Hetze” verurteilt worden, sie wird nicht zum Studium zugelassen. Marie verliebt sich in den älteren, verheirateten Paul Deister (Alfred Müller), der als Richter ihren Bruder verurteilt hat. Erst später erkennt sie, dass Paul ein Karrierist ist und verlässt ihn.

Politisch ist das Sprengstoff. Insbesondere mit der Figur des Richters geht der Regisseur gnadenlos um. Er ist charakterlos und feige: so spricht er nicht nur Recht im Sinne der staatspolitischen Order, sondern so gestaltet er auch sein Leben. Schon im Vorfeld der Dreharbeiten gibt es Initiativen, den Film gar nicht erst in Produktion gehen zu lassen, aber gegen Kurt Maetzig – immerhin Regisseur der Thälmann-Filme – und seine Versicherung, er werde verantwortungsvoll mit dem Stoff umgehen, kann niemand etwas einwenden.

Auf dem 11. Plenum wird der Film aufs Schärfste verurteilt; alle Beteiligten werden direkt und unverhohlen angegriffen. Ihnen wird eine “Verzerrung der sozialistischen Wirklichkeit und des Wirkens der Rolle der Partei” vorgeworfen. Die Studioleitung setzt sich im nachhinein noch für den Film ein, erringt aber eine Niederlage. Kurt Maetzig schreibt eine Stellungnahme im “Neues Deutschland”, in der er den Film als “Irrtum” bezeichnet. Er glaubt damit als prominentester Regisseur, Schaden von anderen abwenden zu können, verspekuliert sich aber.

Repressalien gegen Filmemacher
Heute ist schwer nachvollziehbar, warum sich die DEFA-Künstler derart blauäugig verhalten haben. Nach dem 11. Plenum verändert sich das Leben vieler Beteiligter radikal. Ein Kulturminister verliert seinen Job, der Filmminister muss abdanken, der DEFA-Studioleiter gehen. Regisseur Frank Beyer (Jakob, der Lügner) bleibt nur das Theater in Dresden, erst Jahre später dreht er wieder einen Film. Kurt Maetzig (Ehe im Schatten) erholt sich von seiner Niederlage nie wirklich. Dem 37-jährigen Regisseur Günter Stahnke wird fristlos gekündigt; er wird nie wieder einen Kinofilm realisieren. Kurt Bartel, Jürgen Böttcher, Frank Vogel – der Kahlschlag hat diese Filmkarrieren maßgeblich negativ beeinflusst. Eine kleine Katastrophe in 110 Jahren Filmgeschichte, ein ganz markanter Moment für das ostdeutsche Kino.

Aber wir wollen andere Ereignisse des Filmjahres 1965 nicht vergessen.
Drei Filmleute, die gestorben sind
23.02.1965 – Stan Laurel – ein Teil von Dick und Doof
22.06.1965 – David O. Selznick – großer Hollywood-Produzent der Glanzära
25.03.1965 – Ladislao Vajda – ungarischer Regisseur, u.a. von Es geschah am hellichten Tag

Drei Filmleute, die geboren sind
04.01.1965 – Julia Ormond – britische Schauspielerin, unter anderem in Der erste Ritter
04.03.1965 – Paul W.S. Anderson – Regisseur, unter anderem der Resident-Evil-Reihe
23.05.1965 – Tom Tykwer – deutscher Regisseur, unter anderem von Lola rennt

Der Oscar ging unter anderem an
Bester Film – My Fair Lady von George Cukor
Bester Regie – George Cukor für My Fair Lady
Beste Darstellerin – Julie Andrews für Mary Poppins

Die großen Festival-Sieger waren unter anderem
Goldene Palme – Der gewisse Kniff von Richard Lester
Goldener Löwe – Sandra von Luchino Visconti
Goldener Bär – Alphaville – Lemmy Caution gegen Alpha 60 von Jean-Luc Godard

Drei wichtige Ereignisse der Nicht-Filmwelt
21.01.1965 – Malcom X wird in New York ermordet
23.04.1965 – Der erste TV-Satellit (made in Sowjetunion) umkreist die Welt
15.10.1965 – DDR-Bürger im Rentenalter dürfen in den Westen reisen

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