Paul Greengrass - Die Kraft der stummen Observation

13.08.2015 - 08:30 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
Paul Greengrass
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Paul Greengrass, Regisseur von Flug 93 und dem Bourne Ultimatum, wird heute 60 Jahre alt. Zur Feier des Tages schauen wir uns das Schaffen des Regisseurs an und überlegen, warum sein dokumentarischer Stil so wichtig für das Kino ist.

Als 2006 die filmische 9/11-Aufarbeitung Flug 93 erstmals auf ein Publikum stieß, waren die Reaktionen denkbar heftig. Der Film zwang zahlreiche Besucher, den Saal schockiert und unter Tränen zu verlassen - zu realistisch, zu authentisch waren diese Bilder auf der Leinwand, die es keine fünf Jahre nach den Ereignissen des 11. Septembers 2001 schon in die Kinos schafften. Muss das sein, könnte sich jetzt der geneigte Zuschauer fragen, so ein unverfälschtes Bild, völlig unaufgeregt und schonungslos dokumentarisch, so kurz nach den Anschlägen? Ich möchte gleich noch näher darauf zu sprechen kommen, aber um die Antwort vorweg zu nehmen: Ja, muss es.

Jedem, der einen Film von Paul Greengrass gesehen hat, muss eigentlich gar nicht mehr gesagt werden, dass der Brite seine Anfänge als Dokumentarfilmer gemacht hat. Wohl kaum ein anderer Regisseur legt einen dermaßen großen Wert darauf, die Realität so authentisch wie möglich nachzustellen. Das fängt an bei der großzügigen Besetzung von Laien (viele der Fluglotsen in Flug 93 waren tatsächlich Fluglotsen, die am 11. September 2001 im Dienst waren) und geht bis zur völligen Missachtung grundlegender Regeln der Filmproduktion, wie zum Beispiel: Drehe niemals - niemals in deinem ganzen Leben - auf hoher See. Greengrass verbringt jedoch gleich 60 Tage mit seiner Crew auf dem Schiff, damit Captain Phillips genau zu dem erfolgreichen Film werden konnte, den wir heute kennen.

Um den gewünschten Grad an Authentizität zur erreichen, warf Greengrass, vor allem in seinen Aufarbeitungen historischer Traumata wie eben Flug 93 oder Bloody Sunday, die klassischen narrativen Methoden über Bord und vermittelte uns stattdessen den Eindruck, dass der Film selbst nicht wisse, wie die kommenden zwei Stunden ablaufen werden. Es zeichnen sich keine klaren Protagonisten ab, die Kamera ist ständig in zittriger Bewegung, wir werden mitten in Gespräche geworfen und verlassen sie ebenso abrupt. In den Werken von Paul Greengrass scheint das Geschehen völlig unabhängig vom Film abzulaufen, die Kamera ist nur zufällig da und nimmt mit, was sie kriegen kann, ohne etwas zu kommentieren oder uns einen Schlüssel zu den Motiven zu geben. Tatsächlich gibt Greengrass niemals Regieanweisungen zu den Bewegungen der Darsteller; sie können die Sets während des Drehs nutzen, wie sie möchten, die Handkamera folgt ihnen einfach.

Das kann im Endergebnis auch mal nach sehr einfach verrichteter Arbeit aussehen, doch der Eindruck täuscht, denn wie der Regisseur es selbst formuliert: "Jeder kann mit einer Kamera rumfuchteln und schnell schneiden. Die Frage ist, kannst du das tun und dabei eine vollkommene Klarheit haben und deine Geschwindigkeit variieren und die Kontrolle behalten?" Fans von Greengrass' Hollywood-Produktionen Die Bourne Verschwörung und Das Bourne Ultimatum werden diese Frage wahrscheinlich mit einem eindeutigen Nein beantworten, denn hier wird sein Gespür für die Balance zwischen dokumentarischer Passivität und ausnahmsloser inszenatorischer Kontrolle mustergültig demonstriert - nicht umsonst gelten die beiden Filme vielerorts als beispiellose Beiträge zum modernen Actionkino. Und es ist nun wahrlich nicht so, dass sich - vor allem in diesem Genre - niemand anderes an die Wackelkamera getraut hat und kläglich gescheitert ist.

Diese Art der Inszenierung hat natürlich vor allem in fiktiven Thrillern wie eben den Bourne-Filmen den sehr effektiven Vorteil, dass der Zuschauer direkt in die Handlung geworfen wird, stets ganz nah am Geschehen und damit fester Teil des Spektakels ist. Doch wie sieht es bei dem Umgang mit realen, historischen Ereignissen aus, also diejenigen Projekte, die Greengrass besonders am Herzen liegen? Ein kurzer Blick auf diverse Kritikerspiegel wird rasch Antwort geben, die meisten Kritiker sehen auch dort Greengrass' distinktiven Dokudrama-Stil als ganz große Stärke an, doch das heißt nicht, dass es keine konträren Meinungen gibt.

So wirft der US-amerikanische Journalist und Kritiker Daniel Mendelsohn Flug 93 vor, dass er die passive, gefühlslose Atmosphäre eines Home Videos hätte und dass die vermeintlich nicht vorhandene Dramaturgie den Film zu einer bloßen Reproduktion der uns bekannten Ereignisse jenes Tages macht. Der Verzicht auf eine Narration sowie auf eine Dramatisierung führe dazu, dass der Film seine Wirkung allein auf Zeitzeugen ausüben könne. Zukünftige Generationen werde der Film laut Mendelsohn bloß ratlos zurücklassen, ohne jeglichen Effekt.

Nun ist eine derartige Kritik sicherlich bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar und gerechtfertigt, allerdings ignoriert sie, dass Greengrass' Herangehensweise die einzig logische filmische Aufarbeitung eines terroristischen Anschlags ist, dem per Definition vor allem eine rhetorische Struktur zugrunde liegt: Auf der einen Seite, weil solch ein Anschlag niemals in erster Linie seine direkten Opfer als Ziel hat, sondern immer dazu da ist, um eine Nachricht an ein breiteres Publikum zu senden, auf der anderen, weil er im ersten Moment seines Geschehens nur eine Sache auslöst: Sprachlosigkeit. Natürlich, was kann Sprache im Angesicht derartiger Gewalt schon bieten? Diese paralysierende Stille, die jeder Akt des Terrors nach sich zieht und häufig noch lange Zeit aufrecht erhält, ist ein ganz fester Bestandteil der rhetorischen Eigenschaften eines Terroranschlags und den gilt es bei einer filmischen Umsetzung zu beachten.

Dadurch, dass Paul Greengrass in Filmen wie Flug 93 und Bloody Sunday auf eine klassische narrative Struktur verzichtet, ebenso wie auf klare Protagonisten, Helden, Erklärungen und Hintergründe, verweigert er dem Zuschauer eine hermeneutische Annäherung an das Material. Ja, sein 9/11-Film ist, wie Mendelsohn sagt, weder narrativ noch dramatisiert, aber nur, weil derartige filmische Mittel das Ereignis kommentieren würden und Greengrass genau das vermeiden möchte, ganz einfach aus dem Grund, weil es nichts zu kommentieren gibt. Anstatt Worte für etwas finden zu wollen, für das es keine Worte geben kann, errichtet er aus unserer kollektiven Erinnerung an diesen Tag das einzig angemessene Denkmal - nämlich ein stummes - und leistet damit wichtige Arbeit für die Überwindung eines historischen Traumas.

Oder, von Greengrass kurzgefasst: "Ich steh' nicht so auf Filme, die Slogans sind."

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