1960 - Das französische Kino gerät Außer Atem

30.04.2012 - 16:50 UhrVor 12 Jahren aktualisiert
Jean-Luc Godard ist einer der Begründer der Nouvelle Vague
StudioCanal / moviepilot
Jean-Luc Godard ist einer der Begründer der Nouvelle Vague
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Die 60er waren das Jahrzehnt der gesellschaftlichen Umbrüche, das machte sich auch im Film bemerkbar. Außer Atem von Jean-Luc Godard wurde zum Vorbild für das neue französische Kino: die Nouvelle Vague.

„Vous êtes vraiment une dégueulasse“ – „Sie sind wirklich zum Kotzen“: das sind nicht gerade poetische letzte Worte eines dahinscheidenden Geliebten. Im Drehbuch zu Außer Atem legt Drehbuchautor François Truffaut aber Jean-Paul Belmondo eben jene letzten Worte in den Mund und sie setzen einen ausgezeichneten Schlusspunkt unter das Werk, dessen Idee auf einen Zeitungsbericht über einen Polizistenmord basiert. Es ist ein Gauner, der am Ende des von Jean-Luc Godard realisierten Streifens stirbt und gleichzeitig als Prototyp des Protagonisten einer ganzen Reihe neuer, innovativer Filme aufersteht.

Ein frischer Wind zieht auf
Rückblende. Während der Fünfziger Jahre wird das vormals so besondere französische Kino zu einer Ödlandschaft: bieder und vorhersehbar. Doch einige junge Regisseure wollen sich damit nicht abfinden. Sie sind keine Pioniere des Mediums, sondern gehören zur ersten Generation von Filmemachern, die ihr Wissen an Hochschulen vermittelt bekam; die aus dem mittlerweile stark gewachsenen Archiv der Filmgeschichte schöpfen kann.

Sie propagieren bisher unbekannte oder schon halb vergessene Filme wie die von Alfred Hitchcock, Jean Renoir oder Roberto Rossellini und berufen sich somit auf ihre eigenen, alten Traditionen. Der poetische Realismus, der italienische Neorealismus, die US-amerikanischen B-Movies sind ihnen Quellen der Inspiration. François Truffaut ist es schließlich, der 1954 den Artikel „Eine gewisse Tendenz im französischen Film“ veröffentlicht, und somit eine theoretische Grundlage schafft für die Bewegung, die wir heute als Nouvelle Vague kennen.

Der Regisseur – Handwerker oder Künstler?
Das Herzstück der Forderungen ist die neue Politik der Autoren. Der Regisseur soll fortan im Mittelpunkt des Schaffensprozess stehen und sich an jedem Produktionsschritt beteiligen. Das erhoffte Resultat ist ein persönlicher und unverkennbarer Stil. Zum Künstler soll der Regisseur werden, individuelle Filme schaffen und durch sie seine Sicht auf die Welt preisgeben. Zwar darf er fremde Stoffe bearbeiten – so wie Jean-Luc Godard das Drehbuch von François Truffaut – doch muss er ihnen seinen eigenen Stempel aufdrücken.

Zur französischen Bewegung gehören schnell mehr als die zwei schon genannten Anführer. Um den Beginn der Sechziger Jahre drehen Claude Chabrol, Jacques Rivette, Eric Rohmer, Alain Resnais und viele andere junge Regisseure mehr als sehenswerte Filme, die die gängigen Konventionen vollkommen auf den Kopf stellen. Ihre Initialzündung aber bleibt zweifelsohne Außer Atem.

Von der Theorie zum Film
Vor Godards Augen stehen der amerikanische Film Noir und seine Ikone Humphrey Bogart, als er in seinem ersten Langfilm einen Kleinkriminellen zum Mörder werden lässt und ihn in die Arme einer Austauschstudentin, gespielt von der bezaubernden Jean Seberg, treibt, die sich letztlich zwischen ihm und ihrer Karriere entscheiden muss. Zur Umsetzung der Geschichte findet Jean-Luc Godard eine nie dagewesene Bildsprache, motiviert teils aus künstlerischer Vision, teils aus finanziellen Engpässen.

Der Regisseur wagt den Schritt aus den Ateliers. Er dreht on Location, auf den Straßen, mit der Handkamera und natürlichem Licht. Mit seinem Jump-Cut durchbricht er die eingefahrenen Continuity-Regeln, und während sich Jean Seberg und Jean-Paul Belmondo existentialistische Wortgefechte liefern, lässt er Sprache und Bildmontage oft asynchron laufen. Außer Atem sieht er als „ein[en] Film ohne Regeln oder dessen einzige Regel hieß: Die Regeln sind falsch oder werden falsch angewendet“.

Die französische Erfolgswelle
Statt auf Empörung stößt Jean-Luc Godard mit diesem Konzept auf große Begeisterung seiner Kollegen, und die Stilmittel aus Außer Atem sind in den folgenden Jahren in vielen Filmen zu bestaunen: Sie küßten und sie schlugen ihn, Letztes Jahr in Marienbad, Jules und Jim oder Die Verachtung sind nur einige Beispiele. Der Essayfilm entsteht und in erster Linie wird eine Riege junger Schauspieler engagiert, deren Namen wie Jeanne Moreau, Brigitte Bardot oder Michel Piccoli noch heute untrennbar mit der Zeit der Nouvelle Vague verknüpft sind.

Apropos heute. Noch immer begeistern die unkonventionellen Werke von Truffaut und Co neue Generationen von Kinoliebhabern, die sich von der rauen, jedoch gleichzeitig so bezaubernden Welt in den französischen Filmen mitnehmen lassen. Am Ende von Außer Atem schaut Jean Seberg mit ihren großen Rehaugen direkt in die Kamera und fragt: „Was heißt das, kotzen?“

Was die Menschheit sonst noch im (Film)Jahr 1960 bewegte:
Drei Filmleute, die geboren sind
10. August 1960 – Antonio Banderas, feuriger Spanier aus Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs
10. September 1960 – Colin Firth, stotternder König aus The King’s Speech – Die Rede des Königs
05. November 1960 – Tilda Swinton, unzufriedene Hausfrau aus I am Love

Drei Filmleute, die gestorben sind
03. Januar 1960 – Victor Sjöström, der Professor aus Wilde Erdbeeren
24. Juli 1960 – Hans Albers, Mazeppa aus Der blaue Engel
16. November 1960 – Clark Gable, Rhett aus Vom Winde verweht

Die großen Festival- und Award-Sieger waren unter anderem
Oscars – Ben Hur von William Wyler (Bester Film, Hauptdarsteller, Regisseur, Musik…)
Goldene Palme – La dolce vita – Das süße Leben von Federico Fellini
Laurel Award – Der unsichtbare Dritte von Alfred Hitchcock

Die drei kommerziell erfolgreichsten Filme
Psycho von Alfred Hitchcock
Dschungel der 1000 Gefahren von Ken Annakin
Spartacus von Stanley Kubrick

Drei wichtige Ereignisse der Filmwelt
24. Januar bis 01. Februar 1960 – der Algerienkrieg tobt mit Frankreich
30. August 1960 – die Regierung der DDR verbietet Bürgern der Bundesrepublik Deutschland die Einreise für die Dauer von fünf Tagen, die Kontrollen an den Grenzen verschärfen sich
08. November 1960 – John F. Kennedy wird zum 35. Präsidenten der USA gewählt

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