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Vor 90 Jahren: Scherenschnitte zum Leben erweckt

03.09.2016 - 00:01 UhrVor 5 Jahren aktualisiert
Uraufführung im Berliner Gloria-Palast
Hieronymus Hölzig
Uraufführung im Berliner Gloria-Palast
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Am 3. September 1926 feierte Lotte Reinigers "Die Abenteuer des Prinzen Achmed" Deutschland-Premiere. Als "Silhouettenfilm" präsentiert, stellt es heute den ältesten noch erhaltenen Lang-Trickfilm überhaupt dar.

Das Jahr 1926 sollte aber auch in anderer Hinsicht entscheidend für diesen Rekord sein. So kam es in den argentinischen Lagerräumen des italienischen Filmproduzenten Federico Valle zu einem Feuer , welches Unmengen an Filmmaterial vernichtete. Darunter waren auch die meisten Exemplare zweier Trickfilme des Polit-Satirikers Quirino Cristiani  - El apóstol  (1917) und Sin dejar rastros  (1918). Bis zu diesem Zeitpunkt waren es die einzigen beiden Animationsfilme mit Spielfilmlänge. "El apóstol" zeigte zum Beispiel ein brennendes Buenos Aires - Und wurde in ebenjener Stadt nun selbst Opfer der Flammen. Alle weiteren Kopien dieser Filme tauchten bis heute nicht mehr auf.

"Kinetische Lyrik"

Der älteste im Stop-Motion-Verfahren produzierte Langfilm, der nach wie vor zu bewundern ist, weist den Weg nach Deutschland. Die gebürtige Charlottenburgerin Lotte Reiniger, Jahrgang 1899, vereinigte schon früh eine Liebe für orientalische Märchen, ein Geschick für den Scherenschnitt und eine Offenheit für neue Kunstplattformen. Das "Lichtspielwesen" steckte immer noch in den Kinderschuhen, als sie 1916 einem Vortrag  des Regisseurs Paul Wegener lauschte. Er weckte bei ihr die Lust, dem Medium Film neue Ideen einzupflanzen, sprach von einer "kinetischen Lyrik", die sogar den Schauspieler überflüssig machen könnte. Reiniger durfte bald darauf für Wegener arbeiten und steuerte seinem Film Rübezahls Hochzeit  eine Titelsilhouette bei. Als 1919 das Institut für Kulturforschung  in Berlin öffnete, heuerte Reiniger in dessen Animationsfilm-Abteilung an. Ihre Scherenschnitte konnten nun zum Leben erweckt werden. Dazu lernte sie Carl Koch kennen - Ihren späteren Ehemann und Co-Regisseur für Die Abenteuer des Prinzen Achmed.

Tentakelmonster und Vulkane

Im Jahr 1923, in einer Zeit, als Eine-Billion-Mark-Scheine die Runde machten, fand sich der Inflation zum Trotz ein Finanzier zur Durchführung eines Langzeitprojekts. Reiniger und Koch hatten nun freies Geleit, um zu Schnibbeln und zu Fotografieren, was das Zeug hielt. "Prinz Achmed" entstand auf einem Leuchttisch, über dem eine Kamera schwebte. In Anlehnung an das chinesische Schattenspiel schnitt Reiniger Figuren von 9 bis 35 cm Länge aus Bleiblech und Karton  aus, verband alle Gliedmaßen mit Draht. Für die Hintergrund-Szenerien half der böhmische Regisseur Berthold Bartosch  mit mehreren Lagen aus kunstvoll geschnittenem Butterbrotpapier  aus. Nach dem Drapieren der Figuren auf dem Tricktisch hieß es: Bewegen, fotografieren, bewegen, fotografieren. Für besonders "action-reiche" Szenen kam der Frankfurter Walther Ruttmann  zu Hilfe. Inhaltlich orientierte sich Lotte Reiniger an den Geschichten aus "Tausendundeiner Nacht". Im Film begegnet man Aladin und der Wunderlampe, einem Furcht einflößenden Krakenmonster, einem Dämonen speienden Vulkan und unzähligen weiteren Skurrilitäten. Für den Film wurden 250.000 Aufnahmen gemacht, allein 96.000  würden sich in der 65-minütigen Endfassung wiederfinden. Während der Entstehung avancierte das in Potsdam gelegene Studio  zu einem Treffpunkt für allerhand Prominenz, darunter Bertolt Brecht und Fritz Lang.

Nach drei Jahren Sisyphusarbeit strahlten die kolorierten Bilder im Mai 1926 zum ersten Mal bei einer Berliner Pressevorführung durch den Projektor, begleitet von Wolfgang Zellers eigens für den Film komponierten Musik. Zur offiziellen Uraufführung kam es außer Landes - Dank Reinigers Kontakte zum Regisseur Jean Renoir (Sohn des berühmten Malers Pierre Auguste Renoir) landete "Prinz Achmed" im Juli '26 zunächst auf den Champs-Élysées in Paris. Das deutsche Publikum musste noch bis zum 3. September warten, als der Film im Charlottenburger Gloria-Palast Premiere feierte. Das imposante Kino war erst im Januar eröffnet  worden und bot rund 1.200 Menschen Platz. Die Presse feierte bereits damals "Die Abenteuer des Prinzen Achmed" für seine Perfektion und den schier unvorstellbaren Produktionsaufwand; Hans Wollenberg von der Lichtbild-Bühne  bezeichnete das Gesehene als "Leben gewordene Mädchenträume", für den Berliner Börsen-Courier  stellte dieser Stummfilm sogar eine "zweite, gesteigerte und verwandelte Wirklichkeit" dar.

Unverhofftes Wiedersehen

Die Bombenangriffe auf Berlin zerstörten nicht nur den Gloria-Palast, sondern vernichteten auch das Original-Negativ des Films. Ein schwarzweißes 16-mm-Negativ aus England galt lange Zeit als bestes erhaltenes Exemplar. Trotz der Restauration im Jahr 1989 machte sich die bescheidene Qualität des Ausgangsmaterials bemerkbar, für die neuerliche Koloration musste teilweise improvisiert werden und Wolfgang Zellers Noten wurden seit Jahrzehnten als verschollen angenommen. Doch 1999 dann die Überraschung: Anlässlich des 100. Geburtstags von Lotte Reiniger (✝ 1981) erfolgten neue Recherchen. Eine Nitrokopie mit ausführlichen Informationen zur originalen Farbgebung und die Zensurkarte tauchten auf. So konnte der Film auf 35 mm  reproduziert werden inklusive bis dahin fehlender Zwischentitel. Zudem ließ sich die ursprüngliche Musikuntermalung wiederfinden. Heute gilt "Prinz Achmed" als Meilenstein der Filmgeschichte. Die ägyptische Zeitschrift Mayo  urteilte 2003, der Film dokumentiere eindrucksvoll die respektvolle Faszination der westlichen Welt gegenüber dem Orient mit all seinen Eigenheiten.

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