Leute wie coldmirror, Freshtorge, Liont, DagiBee, DieAussenseiter, JuliensBlog, gronkh, Robert Hofmann, YTITTY, ApplewarPictures, LeFloid, ApeCrime und Andere haben sich auf eigene Faust etwas Großes geschaffen, ganz ohne irgendwelche Hilfe großer Studios oder Budgets. YouTuber ist neben Schauspieler, Musiker oder Autor der neue Beruf der Stars. Die Jugend weiß das. Genauso wie jeder, der viel Zeit im Internet verbringt. Meine Generation ist Zeuge eines neuen Milieus, welches sich in den letzten 10 Jahren zu einer vielversprechenden Karrieremöglichkeit entwickelt hat. Auch, wenn YouTuber noch nicht als offizieller Beruf anerkannt wird, können Stars der Internetplattform, wenn sie sich durchsetzen und Erfolg aufweisen können, regelmäßig mehrere zehn- bis hunderttausend Euro einnehmen.
Jetzt ist JuliensBlog wegen Volksverhetzung verurteilt worden. Nicht nur angezeigt, sondern verurteilt. Zu 8 Monaten Haft auf 3 Jahren Bewährung und 15000 Euro Strafe.
Nicht für eine Aussage in der Öffentlichkeit, sondern für einen Satz innerhalb eines Videos, in dem seine Figur vorschlug, streikende Lokführer mit dem Zug eigenhändig nach Auschwitz zu fahren.
Ein schwarzer Tag für den schwarzen Humor und die Kunstfreiheit.
Ich persönlich finde JuliensBlog nicht unbedingt lustig. Aber bei einer Zuschauerschaft von 1,3 Millionen Leuten offenbar eine Vielzahl anderer Leute. Und selbst bei absolut keinem Erfolg: Julien ist ein Künstler, der in seinen Videos in ein Alter Ego schlüpft, das sich durch politisch inkorrekte Aussagen, Provokationen, viel Zorn, Diskriminierung und Hang zu moralisch fragwürdigen Aussagen auszeichnet. Das ist zweifelsfrei geschmacklos, aber sicher nicht ernst gemeint. Für seine Videos spielt er eine Rolle, quasi den Protagonisten seiner Videos, welcher freilich nicht mit seiner eigenen, privaten Ansicht übereinstimmt. Das merkt man unter Anderem daran, dass es quasi kaum Momente gibt, in denen er nicht politisch inkorrekt agiert. Er überzeichnet und pointiert. Das ist sein Humor.
Wenn Sacha Baron Cohen als Borat auftritt, nimmt er ebenfalls kein Blatt vor den Mund. Ganz offen ist seine Figur frauenfeindlich, antisemitisch und homophob. Niemand zweifelt jedoch auch nur einen Moment an, dass es sich bei ihm um einen fiktiven Charakter handelt, eine Kunstfigur, die Cohen nur spielt und die sich nicht mit seiner realen Einstellung deckt. Und wenn man ein Bisschen mit YouTube bewandert ist, kann man auch durchschauen, dass auch Julien in eine Rolle schlüpft, wie nahezu jeder erfolgreiche YouTube-Künstler auf die ein oder andere Rolle schlüpft, um seinem Zielpublikum zu gefallen.
Von Staatswegen wird YouTube noch nicht der Stellenwert zugeteilt, den es besitzt. YouTuber sind unter Jugendlichen genauso bekannt wie Fernsehstars oder Personen des öffentlichen Lebens. Wo man früher nach der Schule den TV anmachte, um sich seine liebsten Serien anzusehen, loggt man sich nun auf YouTube ein und durchstöbert seine abonnierten Kanäle nach neuen Videos. Die Leute, die Julien anspricht, sind mit der Website und ihrer eigenen Logik und ihrem schrägen Humor, der oft aus “ranten" besteht, bestens vertraut. Besser noch als der Staat, der die Clips als "neue Kunstform" nicht richtig einordnen kann.
Interessant finde ich hierbei im Kontrast, dass landesweit eine Zeitschrift wie Charlie Hebdo verteidigt wird, deren Humor sich teilweise 1:1 mit dem von Julien deckt. Das Medium macht den Unterschied. Und das sollte so nicht sein.
Auch Insane Clown Posse sind bekannt dafür, Leute, die sie für schlecht halten, in Liedern auf recht detaillierte und graphische Weise umzubringen. In ihrem Song "Piggy Pie" vom Album "The Great Milenko" heißt es beispielsweise: "He likes to fuck his sister and drink his moonshine /A typical redneck, filthy fuckin' swine / [...] / ...I had a little fun /And pulled his fuckin' tongue out the back of his cranium", und im Refrain lautet es, von einem basslastigen HipHop-Beat und E-Gitarrensamples unterlegt, "There's nothing like the sound when you hear a piggy die! / I might choose a gun, I might choose an axe". Und mit "Piggy" sind hier nicht Schweine gemeint, sondern in diesem Fall Rednecks, Richter und Reiche.
Das Lied ist kein Einzelfall, auf jedem ihrer Alben gibt es Songs wie diese. Manchmal steckt dazwischen Sozialkritik, manchmal ist es einfach nur böser Humor, um die Massen zu schocken. So zum Beispiel gibt es einen Song auf demselben Album, "Boogie Woogie Wu", in welchem Kinder vom Boogie-Man geholt und getötet werden, das Ganze auch mit recht unschönen Details. Beide Songs spiegeln nicht die Sichtweise von Joseph Bruce und Joseph Ustler wieder, sondern sind zweifelsfrei Teil ihrer Personas Violent J und Shaggy 2 Dope, die sie in ihrer Musik verkörpern. Und das Rapduo ist eben im Horrorcore-Genre angesiedelt. Beim ersten Lied lassen sie zwar definitiv ihren Frust an von ihnen verhassten Personen heraus, in ihren realen Leben unterstützen sie aber keinerlei Gewalt. Der zweite Song verwendet auch nur Kinder als Opfer, um provokativer und schockierender zu wirken. Keine ihrer CDs stand jemals zu irgendeinem Zeitpunkt auf dem Index. Man könnte aber argumentieren, dass die Band zu unbekannt ist, um so viel Aufsehen zu erregen wie Julien.
Dann soll man sich aber mal die "Slim Shady"- und die "Marshall Mathers" LP von Eminem anhören. Suizidaufrufe, Todesdrohungen, frauenfeindliche Texte, häusliche Gewalt, Mord an seiner real existierenden Exfrau und Mutter seines Kindes (und deren neuen Mann und dessen 5 jährigen Sohn), Amokläufe, etc. - darum dreht sich ein Großteil der Songs. In beiden Fällen, Eminem und ICP, würde niemand bestreiten, dass es sich um eine spezielle Art von Humor handelt, die sicher nicht jedem zusagt - aber eben nichts anderes ist als Humor. Wären diese Alben auf Deutsch, wären sie vermutlich indiziert. Dennoch würden die Musiker niemals angeklagt werden, das Volk aufzuhetzen. So wie Julien nun ganz offiziell das Volk aufgehetzt hat (wohl gegen Lokführer, zum Holocaust hat er sich ja nicht geäußert).
Und wieso das? Weil YouTube immer noch nicht als eigene Kunstform anerkannt wurde, während Zeitschriften, Musik und Filme diesen Status bereits lange erlangt haben.
Ich persönlich mag sowohl ICP als auch Eminem, und manchmal Sacha Baron Cohen, mit JuliensBlog und auch Charlie Hebdo kann ich allerdings wenig anfangen. Dennoch kann ich erkennen, dass er bewusst kontroverse Aussagen einsetzt. Lese ich mir die im Internet haufenweise zu findenden Aussagen des Richters durch, so scheint sich dieser vor Allem an der Pietät- und Respektlosigkeit des Humors, sowie an der Tatsache, dass Julien damit mehr Geld einnimmt als er selbst, zu stören. Beides ist ein vollkommen berechtigter Diskussionsansatz, hat aber in einem Gericht nichts zu suchen. Es wäre sogar noch eine Frage nach dem Jugendschutz sinnvoller, da eine Argumentation, Jugendliche könnten den Kontext der Videos nicht richtig zuordnen, plausibler erscheint - wenn auch in meinen Augen nicht korrekt. Aber das ist rein subjektiv. Wäre vor diesem Vorfall eine Best Of-DVD von JuliensBlog erschienen, die FSK hätte sie ab 16 Jahren freigegeben. Unter Garantie. Genauso wie Musikvideos zu Rapsongs mit grenzwertigen Texten genau diese Freigabe bekommen (oder gar 12).
Ich sehe nur eine Lösung für das Problem: YouTube muss endlich mit den anderen Medien gleichgesetzt werden. Immer weiter breitet es sich aus und wird irgendwann vielleicht sogar dem Fernsehen den Rang ablaufen, und das Gehalt von YouTube-Stars zeugt ebenfalls davon, dass das Medium bereits längst fest in unserer Kultur verankert ist und eine entsprechende Behandlung verdient. Tatsache ist: wenn es bereits als Volksverhetzung (!) gilt, innerhalb eines Videos politisch inkorrekte Witze zu reißen, kann die Kunstfreiheit auch gut und gerne komplett abgeschafft werden.
Lg
Dingo