In Zeiten des Peak TV ist es für eine Serie verdammt schwierig, aus der schier unüberschaubaren Masse an neuen Produktionen wie ein bunter Pfau hervorzustechen. Helfen kann es, wenn sie eine originelle Geschichte erzählt, Experimente eingeht, dicht an ihren Figuren klebt, zentrale Fragen des Mensch-Seins behandelt und ganz nebenbei auch mal einen Heulkrampf auslöst.
All das leistet The Leftovers und ist dabei trotz euphorischer Kritiken noch immer viel zu unbekannt. Zahlreiche Gründe sprachen also dafür, sie auf den 2. Platz bei unserem Moviepilot-Ranking der Besten Serien der Dekade zu befördern.
The Leftovers: Bereit sein für das Unerklärliche
Solltet ihr die Serie noch nicht kennen, ist dennoch eine Warnung angebracht: Sie nimmt keine Rücksicht auf eure Erwartungen und noch weniger auf eure Gefühle. Die Geschichte kommt ins Rollen, als urplötzlich 140 Millionen Menschen verschwinden. Der Auslöser dafür oder sonstige Erklärungen bleiben uns konsequent vorenthalten. Das ist gewissermaßen dreist, entspricht aber der Philosophie von The Leftovers: Let the mystery be.
Statt also das Phänomen der so genannten Sudden Departures zu erforschen, müssen wir mit den Personen vorlieb nehmen, die noch da sind. Bis dahin und keinen Zentimeter weiter reicht der Science-Fiction-Gehalt der Serie.
Wer damit leben kann, lernt jetzt ein Figuren-Arsenal kennen, das Wege finden muss, mit Verlust und Zweifeln umzugehen, während Wissenschaft und Religion an ihre Grenzen stoßen. Die Welt ist aus den Fugen geraten - hier trifft die Floskel wirklich mal ins Schwarze.
The Leftovers und seine einmalige Gefühlspoesie
Als wohl wichtigster Charakter in The Leftovers entpuppt sich Nora Durst (Carrie Coon), deren Kinder und Ehemann wie vom Erdboden verschluckt sind. Mit dem Polizist Kevin Garvey (Justin Theroux) versucht sie einen Neustart, doch die Ohnmacht über ihren heftigen Verlust gewinnt eins ums andere Mal die Oberhand.
Seit ich die Serie gesehen habe, sind mittlerweile ein paar Jahre vergangen, eine Szene mit Nora aus der Staffel 3-Episode G'Day Melbourne wird mir aber immer in Erinnerung bleiben (Achtung, Spoiler!):
In einem Hotelzimmer erreicht die Beziehung des zentralen Paares einen Tiefpunkt, ein heftiger Streit lässt sogar buchstäblich einen Brand ausbrechen. Die Sprinkleranlage verrichtet ihren Dienst, Nora allerdings sitzt weinend auf dem Bett und nimmt davon kaum Notiz.
Das Wasser von der Decke trifft auf ihre Tränen, als wären diese nicht schon dick genug. Wenn es so etwas wie poetisches Pathos gibt, empfiehlt sich Showrunner Damon Lindelof als Pionier dieses besonders effektiven Stilmittels.
Überhaupt finden die Macher am laufenden Band unverbrauchte Bilder und Konstellationen, um Emotionen zu befeuern. The Leftovers erreicht stets ungeahnte Höhen, wenn die Protagonisten auf ihre Verletzlichkeit zurückgeworfen sind und wir sie instinktiv vor den Qualen des Lebens beschützen wollen wie ein kleines Kind.
Kevins Schuldgefühle zum Beispiel finden Ausdruck, als er die Anführerin einer Sekte im Reich der Toten als unschuldiges Mädchen wiedersieht, das er in einen Brunnen schubsen soll. In dieser Serie reicht es manchmal nicht, nur einmal durch die Hölle zu gehen und wenn es ganz schlimm kommt, muss man auch noch mit dem Teufel Tango tanzen (oder kriegt es zumindest wie der Priester Matt Jamison mit einem echten Löwen zu tun).
Nach dem Ende von The Leftovers seid ihr ein besserer Mensch
Apropos Tanz: Ja, auch einen solchen bekommen wir noch zu sehen, nachdem skurrile Parallelwelten erkundet wurden, verheerende Prophezeiungen doch nicht eingetreten sind und das Rätsel um die Verschwundenen weiter wie ein geduldiger Adler über der Serie kreist.
Lange bleibt unklar, wem die Serie eigentlich "gehört", denn in jeder Staffel von The Leftovers gibt es Folgen, die im Zeichen einer einzelnen Figur stehen. Am Ende outet sich Damon Lindelof als Romantiker, indem er das Finale Kevin und Nora schenkt.
Jetzt sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir den Antworten auf unsere anfänglichen Fragen ganz nahe sind, sie aber plötzlich nichtig erscheinen - denn Nora und Kevin haben einander. Die Erkenntnis, dass wir Trost nur in der Liebe finden, mag auf einem (virtuellen) Blatt Papier furchtbar abgedroschen wirken, aber The Leftovers vermittelt sie, als würden wir ihr erstmals begegnen.
Keine andere Serie verteilt ihre Schläge in die Magengrube so sanft, dass wir um mehr betteln. Hierin liegt die große Errungenschaft der Autoren: Den Zuschauer in ein tiefes Loch schubsen, um ihm dann wieder herauszuhelfen.
Ist The Leftovers für euch auch die emotionalste Serie der Dekade?