Horrorserien haben ein Problem: Nur wenige von ihnen sind tatsächlich gruselig. Auf Netflix gibt es nun mit Spuk in Hill House eine Serie, die den Balanceakt zwischen Charakterdrama und Horror mit Bravour meistert und euch sowohl Albträume als auch Herzschmerz bereitet. Regisseur und Autor Mike Flanagan beweist mit Spuk in Hill House, dass er einer der vielversprechendsten Horrormeister von Morgen ist. Nachdem er uns in seinen vergangenen Filmen mit magischen Spiegeln, verfluchten Holzbrettern und Handschellen gruselte, nimmt sich Flanagan in Spuk in Hill House des Erfolgsromans von Shirley Jackson an, um (lose) darauf basierend ein komplexes Drama mit seinen Lieblingssujets Kindheitstrauma und Familie zu spinnen, das euch gleichzeitig den Verstand raubt.
Darum geht's in Spuk in Hill House
Vor vielen Jahren zogen Olivia (die grandiose Carla Gugino) und Hugh Crain (Henry Thomas aus E.T.) mit ihren fünf Kindern in das prachtvolle Anwesen Hill House, um dieses zu renovieren und anschließend gewinnbringend zu verkaufen. Doch nach dem tragischen Selbstmord von Olivia wird sich das Leben des Crains für immer verändern. Mittlerweile sind die Crain-Kinder erwachsen und von ihrem Kindheitstrauma im berühmtesten Spukhaus der USA gezeichnet. Ein glückliches Leben bleibt ihnen verwährt, denn die Geister der Vergangenheit wollen sie einfach nicht loslassen und beginnen sie nach und nach zu verschlingen.
Spuk in Hill House ist zermürbendes Familiendrama
Spuk in Hill House gelingt etwas, das nur wenige Serien schaffen: Wirklich alle sieben Hauptcharaktere werden gleich behandelt und sind gleichwertig faszinierend. Das liegt vor allem daran, dass jedem der fünf Crain-Geschwister in der ersten Hälfte der Staffel eine eigene Episode gewidmet wird und sowohl die Erwachsenen- als auch Jungdarsteller alle überzeugen können. Durch den stetigen Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird die Spannung kontinuierlich aufrecht erhalten und wir erfahren mehr über den Zusammenbruch der Familiendynamik, die von dem Tod der Mutter maßgeblich geprägt wurde.
Spätestens ab Folge 5 wird euch die Tragik dieser Familiengeschichte bis ins Mark erschüttern, wenn die Auflösung über den Selbstmord von Nell (Victoria Pedretti) nicht nur eure Kinnladen herunter fallen lässt, sondern euch zugleich das Herz brechen wird. Erst ab diesem Punkt wird auch klar, was für eine Art von Serie Spuk in Hill House wirklich ist und wohin die Reise gehen könnte. Darauf folgt in Folge 6 direkt das nächste Highlight mit einer Plansequenz-Episode, die technisch begeistert und ohne Schnitte niemals den Blick von den Konflikten innerhalb der Familie abwendet.
Spuk in Hill House wird euch Albträume bescheren
Die Gorehounds unter euch können jetzt aufhören zu lesen, denn hier werdet ihr nicht glücklich. Trotzdem ist Spuk in Hill House die gruseligste Serie des Jahres. Neben unzähligen Jumpscares - in Folge 8 erwartet euch einer der heftigsten der letzten Jahre - erschafft Mike Flanagan eine einzigartige Atmosphäre des klassischen Gothic-Grusels. In den dunkelsten Ecken des schaurigen Hill House-Anwesens verstecken sich unzählige Geister, die euch einen kalten Schauer über den Rücken laufen lassen. Oft werden ihr Geister entdecken, die von niemand anderem außer euch wahrgenommen werden, als ob sie euch persönlich anstarren. So entstehen immer wieder absolute Gänsehautmomente, wenn zum Beispiel die unheimlichen Statuen im Haus (wie die Weeping Angels) ihre Haltung verändern, wenn niemand hinsieht.
Knarzende Dielen, polterndes Gemäuer und schreiende Geister sind nicht alles. Mit Spuk in Hill House zeigt Flanagan, wie vielfältig das Spiel mit dem Grusel sein kann. Einige Bilder werden sich direkt in eure Köpfe einbrennen und euch in euren Albträumen über Spinnen, Käfer und platzende Augen verfolgen. Hier muss auch ein Negativpunkt an der Horrorserie angesprochen werden: das GCI. Während ein Großteil der Serie mit praktischen Effekten daherkommt, werden einige Schockemomente mit Computereffekten dargestellt. Und leider ist das CGI in Spuk in Hill House nicht besonders wertig und wirkt wie ein Fremdkörper in den betroffenen Szenen. Dies sind jedoch nur Einzelfälle.
Spuk in Hill House raubt euch den Verstand
Neben den strukturellen Spielereien und niederschmetternden Wendungen ist der interessanteste Aspekt an Spuk in Hill House die Ungewissheit über die Existenz von Geistern. So stellt sich die Frage, ob Geister tatsächlich übernatürlichen Ursprungs sind oder ob diese als Trugbild der eigenen Psyche entspringen. Ist die Familie Crain von echten Geistern heimgesucht? Oder sind die Geister bloß eine verzerrte Manifestation von Geheimnissen, Versagen, Wünschen oder Schuld, die sich wie der Schimmel im Keller von Hill House niemals entfernen lässt? Eine eindeutige Antwort muss jeder Zuschauer für sich selbst finden.
Diese Mehrdeutigkeit lässt Spuk in Hill House zudem zu einem mit vielen Metaphern gespickten und fesselnden Blick auf das Thema Geisteskrankheiten und die Vererbbarkeit dieser werden. So bleibt es lange Zeit ein Rätsel, ob die Crain-Geschwister im Besitz übernatürlicher Kräfte sind oder an psychischen Krankheiten leiden. Dass Hugh Crain die Krankheit seiner Frau verharmlost und ignoriert, umgeht zudem geschickt das für Haunted House-Filme typische Logikloch, warum die Familie nicht einfach aus dem Spukhaus auszieht.
Lohnt es sich, Spuk in Hill House bis zum Ende zu sehen?
Eure Geduld wird definitiv belohnt, denn Spuk in Hill House ist von vorne bis hinten durchdacht und verschachtelt. Die verschiedenen Zeitebenen und Rätsel werden nach und nach entschlüsselt und am Ende alle offenen Fragen geklärt. Der besondere Clou an der Erzählstruktur von Spuk in Hill House ist das Aufbrechen der Chronologie. Immer wieder springt die Handlung in der Zeit und wir sehen verschiedene Schlüsselmoment mehrmals aus unterschiedlichen Perspektiven. Die anfangs klaren Abgrenzungen von Vergangenheit und Gegenwart beginnen im Verlauf der 10 Episoden immer mehr zu verschwimmen, bis die Zeitebenen miteinander kollidieren.
Bis zum Finale schafft es Spuk in Hill House von Folge zu Folge, euren Verstand mürbe zu machen, bis ihr schlussendlich wie Olivia Crain selbst eure Auffassung von Realität in Frage stellt. Dieses Spiel mit der Realität erinnert stark an Flanagans Horrorfilm Oculus. Fans des Horrorregisseurs werden sich in Spuk in Hill House zudem neben vielen bekannten Gesichtern aus all seinen Filmen zudem über zahlreiche Easter Eggs zu seinen Werken freuen können. Am Ende der 10-teiligen Reise einer zerrütteten Familie wird die Wahrheit schmerzen, doch ist das Zulassen dieses Schmerzes sowohl für uns Zuschauer als auch die Figuren für die Heilung unverzichtbar.
Spuk in Hill House ist seit 12.10.2018 komplett bei Netflix abrufbar. Als Grundlage für diesen Seriencheck dienten alle 10 Episoden der 1. Staffel.
Seid ihr bereit, euch mit Spuk in Hill House zu gruseln?