Rettet Venedig - Über die 70. Ausgabe des Filmfestivals

11.09.2013 - 08:50 UhrVor 10 Jahren aktualisiert
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Unser Kollege Rüdiger Sturm war bei den 70. Filmfestspielen in Venedig und berichtet über reale und filmische Baustellen beim Jubiläumsfestival, das mit Werken wie Gravity, Under the Skin und Philomena aufwartete.

Filmkritiker Rüdiger Sturm besuchte kürzlich die Filmfestspiele in Venedig und schreibt hier über die Höhepunkte und Enttäuschungen der 70. Ausgabe des traditionsreichen Festivals.

Filmfestivals haben mit ihren Austragungsorten meist nicht viel gemein. Cannes ist ein verschlafene Kleinstadt und doch der größte Jahrmarkt der Branche. Im kanadischen Toronto gibt sich derzeit halb Hollywood ein Stelldichein. Anders der Fall von Venedig. Das Schicksal der Stadt, einst eine der größten Metropolen der Welt, jetzt darbende Schönheit, spiegelt sich auch in seinem Filmfestspielen wieder, den ältesten der Welt, die dieses Jahr sogar ihren 70. Geburstag feierten. Lange Zeit war die Insel ein garantierter Anlaufpunkt für die Vertreter von Kinokunst- und kommerz. Vor zwei Jahren feierte der künstlerische Leiter Marco Mueller mit einem großen Schaulaufen seinen Ausstand – darunter den neuesten Filmen von Polanski, Soderbergh, Cronenberg, Steve McQueens Shame oder Alfredsons Dame König As Spion. Die Konkurrenz aus dem nahezu zeitgleich stattfindenden Toronto schien noch einmal gebannt. Doch 2012 folgte prompt der Einbruch unter Festivalchef Antonio Barbera. Bis auf Paul Thomas Andersons The Master waren Produktionen von internationaler Relevanz Mangelware. Auch äußerlich gab es genügend Anzeichen venezianischer Verfallsstimmung. Der Abschluss der überfälligen Renovierung des Festivalzentrums – bis zum St. Nimmerleinstag verschoben.

Immerhin – beim diesjährigen Jubiläumsfestival war der Trend zum Untergang noch einmal gestoppt, obwohl die physischen Baugruben unverändert blieben. Für die Hochglanz-Premiere sorgte Alfonso Cuaróns galaktisches Survival-Drama Gravity, das mit einer virtuosen Inszenierung Weltraumszenen von atemberaubendem Realismus schuf. Da mochte man Paul Schraders drögen Erotikthriller The Canyons – Sex – Desire – Passion, den andere Festivals wie Sundance wegen mangelnder Qualität abgelehnt hatten, noch verzeihen. Zumal es kurz darauf mit Joe – Die Rache ist sein amerikanisches Independentkino der gelungenen Sorte gab, samt Nicolas Cage in einer seiner berührendsten Leistungen seit Jahren – als Ersatzvater für einen Teenager aus dem Prekariat. Doch der geriet schnell wieder aus dem Fokus, verdrängt von Stephen Frears’ Philomena, der bis zum Ende des Festivals der Kritiker- und Publikumsfavorit bleiben sollte. Die nach einer wahren Begebnissen verfilmte Geschichte handelt von einer Irin (gespielt von der hinreißenden Judi Dench), die als Zögling einer Erziehungsanstalt ihren neugeborenen Jungen zur Adoption freigeben musste und nun im Alter nach ihrem Sohn sucht.

Wobei darauf noch andere potenzielle Favoriten folgten. Terry Gilliams metaphysischer Trip The Zero Theorem belegte, dass sich der Kultregisseur nicht einmal von einem Kleinbudget auf seinem Höhenflügen der Fantasie bremsen lässt. Minimalistischer, aber gleichzeitig erzählerisch packender kam Stephen Knights No Turning Back daher, der seinen Darsteller Tom Hardy beim Telefonieren auf einer Autofahrt zeigt und dabei einen ganzen Strudel von Emotionen auslöst. Eine überaus gelungene Kombination aus Drama und Thriller zeigte auch John Krokidas Kill Your Darlings – Junge Wilde, der die Geburtswehen der Beat Generation nachzeichnet.

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Nicht jeder mit hohen Erwartungen präsentierte Film konnte freilich überzeugen. Die Geister schieden sich an Jonathan Glazers Kunsthorror Under the Skin, selbst wenn Hauptdarstellerin Scarlett Johansson als alienhafte Kreatur eine der gewagtesten Rollen ihrer Karriere wählte. Eine Aura von Tragik umgab Wie der Wind sich hebt, mit dem sich der legendärste Erzähler des Animationskinos zum ersten Mal eines rein realistischen Sujets annahm – der Biografie des Flugzeugdesigners Jiro Horikoshi, der die japanischen Kampfflieger des Zweiten Weltkriegs konstruierte. Diese Tragik rührt zum einen vom Erzählthema her, aber vor allem von der Tatsache, dass sich Hayao Miyazaki ausgerechnet mit diesem Film von der Bühne des Kinos verabschiedet, der in seinen Figurenporträts erschreckend banal und seiner erzählerischen Konstruktion bleiern bleibt. Der Zauber des genialischen Œuvres – vom Winde verweht.

Nichtsdestoweniger sind die Namen dieser Filmemacher allein ein Zeichen der Hoffnung für Venedig. Immerhin folgte auch die Schauspielerprominenz wieder verstärkt dem Ruf des Festivals und ließ sich auf dem roten Teppich feiern, ob George Clooney, Sandra Bullock, Nicolas Cage oder Daniel Radcliffe. So könnte sich die Biennale weiterhin als kinematographische Boutique behaupten – mit Anklängen an den Status von früher, wenngleich machtlos gegen den großen Marktplatz Toronto.
Nur die Jury, geleitet von Altregisseur Bernardo Bernardo Bertolucci, wollte diesen Trend nicht so recht unterstützen. Die Preise gingen weitgehend an strenges Kunstkino. Warum der Dokumentarfilm Das andere Rom, der in ausgedehnten statischen Bildern die Schicksale von Menschen im Umfeld eines römischen Autobahnrings zeigt, den Hauptpreis bekam, erschließt sich dem Außenstehenden nicht. Philomena musste sich mit der Auszeichnung für das beste Drehbuch bescheiden. Sollte das künftige Programm tatsächlich derartige Präferenzen wiederspiegeln, dann dürfte das Festival tatsächlich früher oder später in Bedeutungslosigkeit untergehen. Ob mit oder ohne Baugrube. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.

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