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John Locke und das Heldentum des Scheiterns

24.01.2016 - 14:31 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
Niemand, aber auch wirklich niemand, sollte John Locke sagen, was er nicht tun kann.
ABC
Niemand, aber auch wirklich niemand, sollte John Locke sagen, was er nicht tun kann.
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Um ihn herum Feuer, Schreie, Panik und die Überreste eines abgestürzten Flugzeugs. Benommen rappelt er sich auf. Für ihn scheint die Zeit still zu stehen, denn er muss erst einmal ein Wunder begreifen, das sich an ihm zugleich vollzog. In dem Moment leuchtet er im Chaos hell wie eine Jesus-Figur. Und in mancherlei Hinsicht ist er das tatsächlich. Wie tragisch allerdings, erahnt der Zuschauer nicht. Manchmal hat man einfach solche Begegnungen: Zu jenem Beginn wusste ich natürlich noch rein gar nichts über John Locke, und doch war mir sofort klar: Diese kantige Nicht-von-dieser-Welt-Erscheinung mit ihren spitzen, abstehenden Ohren und ihrem Blick, der Zement durchbohrt, wird derjenige Charakter sein, zu dem ich 121 Folgen lang halte.

[Wichtiger Hinweis: Der folgende Text enthält Spoiler. Wer Lost also (schändlicherweise!) noch nicht kennt und sich der Serie eventuell irgendwann widmen möchte, sollte das Browser-Fenster schleunigst wieder zuklappen. Leider ist es unmöglich, mich hier verständlich zu machen, ohne dabei wesentliche Informationen bezüglich des Handlungsverlaufs preiszugeben.]

Man of misfortune

John Locke ist ein Einzelgänger. Zwar trifft dies nicht minder auf jeden anderen seiner Mitpassagiere zu, aber er ist sozusagen der Außenseiter unter den Außenseitern. Sein Leben ist - ja, man muss es wohl so hart formulieren - eine Chronologie des Pechs. Er wächst bei Adoptiveltern auf und wird von seinem leiblichen Vater schließlich skrupellos um eine Niere betrogen. Der Versuch, selbigen zur Rede zu stellen, endet im Rollstuhl. Da Locke darüber nicht hinweg kommt, verlässt ihn die Frau, die er liebt und mit der er sich verloben wollte. Soweit ein grober Abriss.

Warum empfinde ich unweigerlich Sympathie für so jemanden? Nun ja: Ich gehöre zu denen, die sich schon in der Schule fragten, warum manchen Altersgenossen scheinbar ohne Zutun alles zufliegt - gute Noten, ein harmonisches Elternhaus, materielle Sicherheit, allgemeine Beliebtheit. Ich bin ein Scheidungskind und sogar dann, wenn ich mich richtig auf den Hosenboden setzte, reichte es (zumindest in den Naturwissenschaften) selten zu mehr als einer glatten 3. Was mir lag, war das Schreiben, aber auch in Deutsch waren mir gute Noten nicht unbedingt vergönnt. Nach der Rückgabe eines Aufsatzes meinte mein Lehrer einmal zu mir, dass ich inhaltlich zwar mächtigen Quatsch abgeliefert hätte (er nahm kein Blatt vor den Mund...), er andererseits aber selten eine solche rhetorische Überzeugungskraft erlebt habe und auf mich "hereingefallen" sei. Wenn ich jetzt noch meine Schüchternheit überwinden würde, könne ich in die Politik gehen. Bis heute bin ich unsicher, ob dies das größte Kompliment oder die dreisteste Beleidigung war, die mir je erteilt wurde. Bezeichnend ist es allemal.

Wann immer ich jedenfalls kleine Erfolge erziele, erarbeite ich sie mir hart und warte nur darauf, dass Ernüchterung einsetzt. Womöglich ist es bloß so ein Gefühl, dass einigen Menschen eben mehr Glück zuteil wird als anderen - vielleicht stimmt es aber auch. Und wenn es stimmt, weiß ich immerhin, wie man um etwas kämpft. Denn genau das tue ich eigentlich permanent. Symbolisch führt auch John Locke ein ganzes Messer-Set mit an Bord ...

Man of faith

... Mitleid wäre also ein Missverständnis. Wirklich schillernd wird Locke erst dadurch, dass er nicht einfach dabei stehen bleibt, sich demütig in sein Schicksal zu fügen. Im Gegenteil umstreift ihn ein inneres Drängen, das unbändigen Willen freisetzt. Denn er verlangt Antworten: Darauf, wer ihm seine Wunden zufügt und warum er sie ertragen muss. Eine Frage wandelt sich schon bald in Hoffnung. Und aus Hoffnung erwächst manchmal Glaube. Oder Irrglaube. In Folge 1 der 2. Staffel erklärt Lost die Figur sodann offiziell zum "Man of faith", was den Kern jedoch nicht exakt trifft bzw. stark vereinfacht. Genau genommen ist Locke ein Suchender und immer wieder schmerzlich gezwungen, seine "Überzeugung" - wo sie der Realität nicht standhält - zu revidieren. Wie ein Trüffelschwein lauert er auf Zeichen. In einem der emotionalsten Locke-Augenblicke wähnt er zum Beispiel, der Himmel habe sich geöffnet, und auch ich als Betrachter will, dass er Recht hat - tatsächlich handelt es sich lediglich um Desmond Hume , der von unten das Licht anknipste und so einen Strahl nach oben warf. Und nein, die Welt war auch nicht durch wiederholte Eingabe eines Zahlencodes zu retten. Hysterisch trommelt der gebrochene Locke auf die Luke ein. Die göttliche Fügung entpuppt sich als Illusion. Mit derartigen Finten rüttelt Lost, als Mystery-Serie, nicht zuletzt auch stets an der eigenen Mythologie - wie auch wir gehalten sind, unerfüllbare (?) Träume, nicht Macht über uns ergreifen zu lassen. Für John Locke bedeutet es: Er ist ein Narr. Und das Publikum mit ihm.

Man of resurrection

Wertet man die Ereignisse aus Staffel 6 metaphorisch, dann wäre er gestorben, wieder auferstanden und ein zweites Mal gestorben. Wer jetzt noch an ihm zweifelt, dem ist nicht zu helfen. Locke erbrachte empfindliche Opfer, um die Insel - welche für ihn, trotz allem - ein heiliger Ort ist - zu beschützen. Die bittere Wahrheit aber lautet, drastisch ausgedrückt: Die Insel hat ihn benutzt. Kaum tröstend, aber immerhin bestätigend, klingen da die abschließenden Worte von Benjamin Linus : John Locke sei etwas Besonderes und Linus neidisch auf ihn gewesen.

Warum neidisch sein auf einen Glücklosen? Ganz einfach: Weil er es versucht hat.

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